Ein Komponist, tausend Geschichten

Ein Komponist, tausend Geschichten

Beitrag zum Filmmusik-Konzert mit James Newton Howard von Jon Burlingame

In Hollywood sind es die wandelbaren Komponist:innen – musikalische Chamäleons – die mit einer langen und erfolgreichen Karriere belohnt werden. Sie sind wie Charakterdarsteller, die mühelos in jede Rolle schlüpfen können, in jede Epoche, jede Kultur, jedes Genre. James Newton Howard ist ein solches Chamäleon par excellence, ein Komponist, dessen Repertoire fantastische Tierwesen und Geflüchtete, hübsche Frauen und böse Königinnen umfasst, musikalische Geschichten über Alien-Invasionen und Glaubenskrisen, postapokalyptische Hungerspiele und riesige Gorillas, die durch New York toben. In seiner langen und vielseitigen Karriere hat Howard romantische Komödien ebenso selbstverständlich vertont wie Animationsfantasien, Retro-Western, Politthriller und Historienfilme.

Doch bei all dieser Wandlungsfähigkeit, in all den verschiedenen Kostümen und stilistischen Akzenten, hat Howard eine unverwechselbare musikalische Stimme entwickelt: romantisch, symphonisch klassisch, aber mit einem modernen Pop-Anstrich, heroisch, doch durchzogen vom Schmerz des Verlusts. Ein James Newton Howard-Soundtrack kann alles sein. Doch die sehr unterschiedlichen Werke, die Howard in den letzten 40 Jahren geschaffen hat, ergeben zusammen eine lesbare Gestalt, eine wiedererkennbare Signatur.

Seine Kindheit deutete zunächst nicht auf eine große Hollywood-Karriere hin. Er wuchs am Stadtrand von Los Angeles als Sohn eines Milchmanns und einer Telefonistin auf. Seine Großmutter war eine ambitionierte Songwriterin und Geigerin. Bereits im Alter von vier Jahren fühlte er sich zum Klavier hingezogen. Er studierte an der Musikakademie in Santa Barbara und besuchte ein Jungengymnasium in Ojai, bevor er als Klaviermajor an der University of Southern California seine klassische Ausbildung fortsetzte. Dann lockte ihn der Ruf des Rock ’n’ Roll aus dem Konzertsaal.

Es folgte eine überaus mannigfaltige Karriere: zunächst als Mitglied der psychedelischen Rockband Mama Lion, dann als Keyboarder in Elton Johns Band. Elton John gewährte ihm einen Logenplatz im Jetset-Leben des Rock mit Studioaufnahmen und weltweiten Tourneen. Mit ihm und Melissa Manchester begann Howard seine orchestrale Reise: Er schrieb Streicherarrangements und Partituren für ihre Popalben. Bald war er ein gefragter Studiomusiker, der Synthesizer- und Keyboard-Parts lieferte und für Künstler wie Toto und Barbra Streisand arrangierte und produzierte.

Howards erster Filmauftrag 1985 war kein glamouröses Projekt: Männer für jeden Job, eine drollige Farce über die amerikanische Unternehmenskultur. Doch die Kunstform Film war sofort verführerisch. „Musik ist Musik", sagt Howard. „Alles ist Musik, und ein Songwriter ist zu einem Großteil ein Geschichtenerzähler. Wenn man als Musiker ein guter Geschichtenerzähler ist, scheint sich das auch auf die Arbeit als Filmkomponist übertragen zu lassen. Film ist eine großartige Ausdrucksmöglichkeit, denn jede Gelegenheit, die sich dir bietet, ist ein neuer Moment, eine Gelegenheit, etwas völlig anderes zu machen als das, was du je zuvor gemacht hat.“

Howards frühe Soundtracks waren vorwiegend elektronisch und synthesizerbasiert – ein Nebeneffekt seiner Popkarriere. Doch schon in den frühen 1990er Jahren begann er, sich als Orchesterkomponist zu entfalten. Howard übernahm die klassische Hollywood-Tradition, die auf zwei Wiener Komponisten - Max Steiner und Erich Wolfgang Korngold - zurückgeht, die bei der Filmmusik einen opernhaften Ansatz verfolgten. Sie ordneten den Figuren Leitmotive zu, unterschieden, welche Momente der Untermalung einen verbindenden Sprechgesang und welche schwungvolle Instrumentalarien erforderten, und setzten das Orchester ein, um eine parallele und anschauliche Geschichte zu den Bildern und Dialogen auf der Leinwand zu erzählen. „Wenn die Musik perfekt zur Szene passt – dieses Gefühl ist so gewaltig, so erfüllend für mich“, sagt Howard. „Das ist wirklich der Grund, warum ich das tue.“

Das heutige Programm bietet einen weiten Überblick über Howards vielseitige Karriere. Den Auftakt bildet eine Suite aus zwei Disney-Animationsfilmen: Der Schatzplanet (2002) und Atlantis – Das Geheimnis der verlorenen Stadt (2001). Wie Howards Musik verbinden diese Filme klassische Erzählkunst mit modernster Technik und erfinden literarische Stoffe neu – etwa Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel als Sci-Fi-Abenteuer oder die Suche nach dem von Platon erdachten Unterwasser-Königreich. Diese phantastischen Familienepen inspirierten Howard zu abenteuerlicher Action-Musik, Fanfaren, einprägsamen Heldenthemen und – ganz in Disney-Tradition – viel Herz.

Für eine viel düsterere Variante der Fantasy-Literatur Snow White and the Huntsman (2012) komponierte Howard ein edles Thema - zunächst vom Horn gespielt, später im Orchester weitergetragen – und einen mystischen Klaviermotor (ein Markenzeichen des Komponisten). Bedrohliche Motive treffen auf den hitzigen Rhythmus der Schlacht, doch das dunkle Chaos ebnet den Weg zur Erlösung und hymnenhaften Krönung.

Einer von Howards frühen Erfolgen war Herr der Gezeiten, ein romantisches Drama aus dem Jahr 1991. Barbra Streisand führte Regie und übernahm die Hauptrolle: eine Psychiaterin, die sich in ihren Patienten verliebt. Zu den sieben Oscar-Nominierungen des Films gehörte auch Howards Filmmusik, die in einem seiner lyrischsten und schmerzhaftesten Liebesthemen wurzelt. Es ist das Werk eines begnadeten Melodikers mit dem direkten Appell eines Popmusikers an Herz und Ohr, verpackt in eine elegante Orchestrierung, die mit einem Fuß in der Vergangenheit und einem in einer zeitgenössischeren Sprache steht. 

Die zweite dunkle Königin des Abends ist Maleficent (2014), obwohl Angelina Jolies Charakter die ikonische Bösewichtin aus Disneys Dornröschen mit neuen Nuancen versieht. Howard vertonte ihre unschuldigen Wurzeln als Fee, die gerne fliegt und ihr magisches Königreich beschützen will, mit luftiger Süße. Die Partitur rührt den klassischen Märchenzauber – gezupfte Harfe und Sopranstimmen, funkelnde hohe Töne und schleichende tiefe Tuba-Linien - zu einer düster-romantischen Hymne für Chor und Orchester passend zur schönen Antiheldin. Die Geschichte bietet Platz für Kriegshetze und große Oper in der Tradition des alten Hollywood genauso wie für intime, introspektive Passagen, die zeigen, dass sich unter den schwarzen Hörnern ein komplexerer Kopf verbirgt.

Zu Howards fruchtbarsten Kooperationen mit Regisseuren gehört seine Arbeit mit M. Night Shyamalan: eine Reihe von Filmen, die oberflächlich betrachtet von Geistern, Superhelden Außerirdischen und Fabelwesen handeln, tatsächlich aber spirituelle Meditationen über Trauer, Einsamkeit, Glaube und Liebe darstellen. Signs (2002) ist sowohl ein Thriller über eine Alien-Invasion als auch die Geschichte eines Mannes, der auf tragische Weise seine Frau und seinen Glauben verliert und inmitten der Scherben lebt. Howard fand seinen roten Faden mit einem einfachen, aufsteigenden Drei-Ton-Motiv, das den Film in Form eines bedrohlichen Alarms eröffnet, sich aber allmählich zu einer emotionalen Katharsis entwickelt, während die Familie Zeichen entdeckt, die auf ihre Rettung hindeuten. Töne, die als düstere Warnung beginnen, wandeln sich schließlich in ein glühendes Herzenslied.

Schnee, der auf Zedern fällt, ein Gerichtsdrama aus dem Jahr 1999, basiert auf einem populären Roman, der den Rassismus gegenüber Japanern auf einer abgelegenen amerikanischen Insel nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert. Die Erzählung über Mord, Ablehnung eines Volkes und komplizierte Liebe lud Howard zu einer tragischen Oratorienmusik für Chor und Orchester mit entschiedenem Blechbläser-Kontrapunkt. Ein leiser Percussion-Herzschlag, begleitet von einem ruhigen Streicherchoral, der eine liebliche, aber gespenstische Stimmung erzeugt: Diese Musik untermalt eine wortlose Szene, in der japanische Amerikaner während des Krieges gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben werden.

Der Western ist ein fester Bestandteil des Hollywood-Kinos. Howard bekam seine Chance, sich in Wyatt Earp – Das Leben einer Legende (1994) in Zusammenarbeit mit Regisseur Lawrence Kasda mit den malerischen Aussichten, Reitabenteuern und der rustikalen Romantik des Genres auseinanderzusetzen. Er schrieb ein robustes Heldenthema für die Titelfigur und nutzte die Melodie, um sowohl ihre männliche Härte als auch ihre Zärtlichkeit auszudrücken. Howard komponierte auch ein Westernstadtthema in der großen Americana-Tradition sowie ein lyrisches Romantikthema, das er mit blühenden Blumen und einem Hauch Verlust parfümierte.

Der jüngeren Generation stellte sich Howard ab 2012 mit der Filmreihe Die Tribute von Panem mit Jennifer Lawrence als Katniss Everdeen vor - eine widerwillige Kriegerin in einer dystopischen Zukunft, in der die Oberschicht die Unterschicht zu ihrem Vergnügen bis zum Tod kämpfen sieht. Die Suite beginnt mit einem Abschiedsthema für die unglückliche Rue, gefolgt von einer schweren, langsam aufsteigenden Musik für die überlebende Katniss. Jenseits der Tragödie erlebt man auch in der Musik Pomp, Zeremonien und „glorreiche“ Schlachten.

Shyamalan ließ auf Signs den Mysteryfilm The Village folgen - ein weiteres kontemplatives „Gedicht“ in der Verkleidung eines Kreaturenfilms. Howard ging zunächst mit dem Gedanken an einen Gruselthriller an die Sache heran, aber im Laufe der Arbeit erkannten er und der Regisseur, dass es sich eigentlich um eine Liebesgeschichte handelt. Das Ergebnis war eine pastorale und romantische Filmmusik mit andächtigen, suchenden Geigensoli in einer bewaldeten Schlucht mit Flöten, Klavier und schwingenden Streichern. Nach dem Durchschreiten des Tals des Todes findet die Partitur zu einem stillen Frieden.

Das Furchteinflößendste an King Kong (2005) war für James Newton Howard, dass er nur sechs Wochen Zeit hatte, um Peter Jacksons dreistündiges Epos zu vertonen. Die sanften Szenen, etwa mit Ann (Naomi Watts) und Kong auf einem zugefrorenen See, gaben ihm die Gelegenheit, ein intimes, fast kindliches Klavier-Liebesthema zu schreiben, das in starkem Kontrast zu dem Sturm für imposante Blechbläser und aufgeregte Streicher steht, die die Panik und Kämpfe auf einer mysteriösen Insel voller gigantischer prähistorischer Bestien begleiten. Die Suite überlässt mit einer Fanfare des Heldenhorns Kong das letzte Wort.

Howard hat inzwischen zwei Violinkonzerte geschrieben, und seine Vorliebe für das Instrument brachte viele schöne Soli in seiner Filmarbeit hervor - darunter auch in Ein verborgenes Leben (2019), Terrence Malicks Drama über einen österreichischen Bauern, der sich weigert, Hitlers Armee beizutreten. Malick bat Howard, das Gefühl eines Flusses zu erzeugen und sprach mit ihm über das inhärente Gefühl des Verlusts sowohl in der romantischen Liebe als auch im Paradies. Howard antwortete mit einer Adagio-Melodie für Violine, die die Schönheit des Lebens dieses Mannes und die Liebe zu seiner Familie besingt und ihre vorzeitige Trennung beweint.

Ein Markenzeichen von Howards Partituren für die Filme von Shyamalan ist ein überschwänglicher und zu Herzen gehender emotionaler Höhepunkt. In Die Legende von Aang (2010) kommt dieser zum Tragen, wenn die Titelfigur langsam einen ganzen Ozean anhebt, um die bedrohliche Feuernation zu besiegen. Howard vertonte die Szene mit einer ansteigenden und schließlich flutgleichen Freisetzung tiefgreifender Emotionen - Schmerz, Trauer, Stärke und das Einfordern des eigenen Schicksals, gefolgt von Gelassenheit und herrlicher Kraft.

Vor all den großen Abenteuern und Dramen machte sich Howard als Meister der romantischen Komödie einen Namen. Er vertonte nicht weniger als neun Filme mit Julia Roberts, der Königin dieses Genres. Die RomCom Suite beinhaltet zwei der berühmtesten: In Pretty Woman (1990), einer modernen Variante der Aschenputtel-Geschichte, tritt Roberts als Escort eines reichen Geschäftsmannes auf, der sich in sie verliebt. In My Best Friend's Wedding (1997) wird Roberts' Figur klar, dass sie in ihren besten Freund verliebt ist, als dieser gerade dabei ist, eine andere Frau zu heiraten. Das erste Thema stammt aus Dave (1993), einem Film über einen ganz normalen Mann, der zufällig ein Doppelgänger des US-Präsidenten ist und in den sich die echte First Lady verliebt. Nach Howards zögernden, sich langsam entfaltenden Liebesthemen für Klavier und Streicher endet die Suite mit einem atemlosen, glockenläutenden Wettlauf zum Altar.

Die zauberhafte Welt von Harry Potter hat von vielen Komponisten großartige Musik hervorgebracht. Howard wurde die Ehre zuteil, mit Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind (2016) und dessen Fortsetzungen ganz neue Kapitel zu schreiben. Eddie Redmayne ist als Newt Scamander zu erleben, ein „Magizoologe“ in einem fantastischen New York der 1920er Jahre. Die Suite beginnt mit Howards Thema für Newts romantisches Herz am Klavier. Die prächtigen Aussichten und Fabelwesen in Newts magischem Koffer inspirierten ihn zu herzzerreißender Musik des Staunens und der Ehrfurcht, Newts waghalsige Flucht aus dem Gefängnis zu einem schmissigen Abenteuerthema und sein erschütternder Ritt auf einem geflügelten Occamy zu schwungvoll stampfendem Ballett. Ein Showdown in der Luft und der euphorische Flug eines riesigen Donnervogels sorgen für Spannung und musikalische Katharsis, bevor die Fantastic-Suite in feierlichem Glanz gipfelt.

Manchmal hat sich James Newton Howard gefragt, ob sein Chamäleon-Dasein Fluch oder Segen sei. Am Ende erkannte er darin seinen Wert: „Mein Ziel ist es, jedes Mal nicht wie ich selbst zu klingen“, sagt er. „Ich bin stolz darauf, an so vielen verschiedenen Filmen gearbeitet zu haben – und sie haben alle funktioniert. Ich bin noch nie auf etwas gestoßen, bei dem ich dachte: Oh, ich werde nie herausfinden, wie ich das machen soll. Ich schätze, ich bin ein Chamäleon. Und ich denke, die meisten Leute würden zustimmen.“


Textautor Jon Burlingame ist einer der führenden amerikanischen Autoren für Filmmusik. Er berichtet für Variety über Musik für Film und Fernsehen und lehrt Filmmusikgeschichte an der University of Southern California.