Ein Löwe für Brahms
Ein Löwe für Brahms
Johannes Brahms
Die frühe Brahms-Rezeption der Wiener Symphoniker
von Michael Krebs
Der Mitbegründer und erste Chefdirigent der Wiener Symphoniker Ferdinand Löwe war nicht nur ein unermüdlicher Vorkämpfer der Musik seines Lehrers Anton Bruckner – er war auch der entscheidende Impulsgeber für die dauerhafte Verankerung der Symphonien von Johannes Brahms im Wiener Konzertrepertoire.
Kaum eine Künstlerpersönlichkeit prägte die Wiener Symphoniker in dem ersten Vierteljahrhundert ihres Bestehens so nachhaltig wie Ferdinand Löwe, der Mitbegründer und langjährige Chefdirigent des 1900 unter dem Namen Wiener Concertverein gegründeten Orchesters. Er lernte sein Handwerk bei keinem Geringeren als Anton Bruckner, als dessen Vorkämpfer und künstlerischer Anwalt er bis heute erinnert wird. Gleichzeitig verfügte er jedoch über die künstlerische Weitsicht, sich dem damals leidenschaftlich geführten Parteienstreit zwischen den sogenannten „Brucknerianern“ und den „Brahminen“ zu verweigern, welche in hitzigen Debatten den „Neuerer“ Anton Bruckner und den scheinbaren Traditionalisten Johannes Brahms zu ästhetisch unversöhnlichen Antipoden stilisierten.
Löwe war in dieser Situation klug genug, kompositorische Qualität über ideologische Streitereien zu stellen, und so nahmen ganz selbstverständlich auch die Werke von Johannes Brahms einen zentralen Platz in den Konzertprogrammen des Bruckner-Schülers ein – und zwar von Anfang an. Bereits im „dritten Gesellschaftskonzert“ am 14. Februar 1900 brachte das erst kurz zuvor gegründete Orchester die Symphonie Nr. 1 in c-moll zur Aufführung. Seit dem Tod des Komponisten waren erst drei Jahre vergangen und seine kein Vierteljahrhundert alte Erste stieß noch vielerorts auf Unverständnis. Die Aufführung im Februar 1900 trug wesentlich dazu bei, dies zu ändern. So schrieb der einflussreiche Wiener Musikkritiker Theodor Helm in seinen Lebenserinnerungen, die Symphonie sei „in Wien durch mehr denn zwanzig Jahre als 'trocken und erfindungslos' verschrien gewesen, bis es endlich Ferdinand Löwe als Dirigenten des damals eben begründeten Neuen Philharmonischen Orchesters 1900 gelang, den Leuten bezüglich der richtigen Einschätzung des Meisterwerkes“ die Augen zu öffnen.
Im Neuen Wiener Tagblatt wurde das „musikalische Ereignisse allerersten Ranges“ am 16. Februar 1900 von keinem Geringeren als dem späteren Brahms-Biographen Max Kalbeck besprochen. Auch er befürchtete zunächst eine Ablehnung durch die „der Brahms’schen Kunst fremd gegenüberstehenden Zuhörer“. Diese Sorge war gänzlich unbegründet - die meisterhafte Darbietung nahm das kritische Wiener Publikum wie nie zuvor für das Werk ein: „Am Schlusse der Symphonie brach der Enthusiasmus des Publicums in unerhörten orgiastischen Jubel aus, und der Donner des Beifalls rollte mehrere Minuten lang durch den Saal.“ Die Begeisterung war so groß, dass sich das „allgemeine Verlangen“ äußerte, Brahms‘ Erste Symphonie „gerade von diesem Orchester und gerade unter diesem Dirigenten möglichst bald wiederholt“ zu hören.
Dafür sollte es nun endlich reichlich Gelegenheit geben. Denn der denkwürdige Konzertabend im Februar 1900 legte nicht nur den Grundstein für die Akzeptanz des Symphonikers Brahms in seiner Wahlheimat Wien, er war auch der fulminante Startschuss einer so lang vermissten kontinuierlichen Wiener Repertoire-Pflege seiner Musik durch das neugegründete Orchester. Dass es Löwe damit ernst war, verdeutlicht ein Blick in das Archiv der Wiener Symphoniker: Bis 1923 sollte Löwe knapp 140 Darbietungen von Kompositionen Johannes Brahms‘ leiten. Einen zentralen Platz nahmen dabei die vier Symphonien ein, die Löwe mit seinem unermüdlichen Einsatz endlich dauerhaft im Wiener Konzertrepertoire verankerte. Seine besondere Vorliebe galt der Ersten, die er nach der richtungsweisenden Darbietung im Februar 1900 noch ganze 16 weitere Male auf Programm setzte. Die Vierte sollte in Löwes Amtszeit insgesamt 14 Mal erklingen, und auch die Zweite, und in etwas geringeren Ausmaß die Dritte Symphonie kamen mit elf und sechs Aufführungen endlich zu ihrem Recht.
Die intensive Hinwendung zu den symphonischen Werken sowohl von Brahms als auch von Bruckner zeugt von der verbindenden Grundhaltung und dem künstlerischen Weitblick des ersten Chefdirigenten der späteren Wiener Symphoniker. Im achten Jahr der Orchestergeschichte war endlich die Zeit reif, ein deutliches Zeichen zu setzen. Am 11. Dezember 1908 tat Löwe, was zuvor noch keiner in Wien gewagt hatte: Er dirigierte mit den Haydn-Variationen von Brahms und der Dritte Symphonie von Bruckner zwei Werke der beiden scheinbaren Antipoden an einem Abend – und schrieb damit ein weiteres Mal Wiener Musikgeschichte: „Brahms und Bruckner – das war einmal ein Gegensatz!“ jubelte Julius Korngold am 21. Dezember in der Neuen Freie Presse, und sieben Jahre später resümierte Richard Batka im Fremdenblatt vom 19. Februar 1915: „Die Versöhnung der beiden großen, so lange entzweiten Musikparteien Wiens ist in Löwe zuerst lebendige Wirklichkeit geworden. Die Geschichte des Wiener Konzertvereines ist darum zugleich die Geschichte der Versöhnung zwischen dem konservativen und fortschrittlichen Musik-Wien.“