„Mozart ist wie Zähneputzen“
„Mozart ist wie Zähneputzen“
Petr Popelka über seine Visionen für die Wiener Symphoniker und das Programm seiner Antritts-Saison
Petr Popelka, so kurz vor Ihrer ersten Saison als Chefdirigent, mit welchen Gedanken wachen Sie nachts auf?
Grundsätzlich schlafe ich gut. Aber ich spüre dieses Gefühl des großen Enthusiasmus. Dieses Kribbeln, dass es bald losgeht. Eine Vorfreude darauf, dass wir endlich gemeinsam spielen können, dass unser gemeinsamer Weg beginnt. Klar, da gibt es auch die Gedanken an die Verantwortung, und das Wissen darum, dass sicherlich irgendwann auch Probleme gelöst werden müssen. Aber über allem steht diese flirrende Freude vor dem Anfang.
Sie haben eine sehr lange Beziehung zu den Wiener Symphonikern…
… schon als Jugendlicher bin ich regelmäßig mit meinen Eltern von Prag nach Wien gefahren, um in dieser Stadt die größten Orchester der Welt zu hören. Die Wiener Symphoniker sind für mich die musikalische Verkörperung Wiens, ein Orchester, das den Geist der Stadt aufspürt und abbildet, ein Ensemble mit großer Tradition, vor allen Dingen aber ein Orchester, das stets modernen Pioniergeist verkörpert hat – sowohl, was das Repertoire betrifft als auch die Aufgaben eines Orchesters innerhalb der Gesellschaft. Wenn ich gefragt werde, wie ich mir die Reise mit den Wiener Symphonikern vorstelle, denke ich an meinen kleinen Sohn: Welches Orchester wollen wir der nächsten Generation übergeben? Wie funktioniert ein modernes Orchester, in dem wir miteinander und auf Augenhöhe musizieren? Wie können wir gemeinsam die Tugenden der Wiener Symphoniker pflegen und stärken?
Sie sprechen gern vom „modernen Orchester“, was genau verstehen Sie darunter?
Ein Orchester, das mit all seinen Musikerinnen und Musikern jeden Abend weiß, warum es welches Programm spielt. Ein Orchester, das die Menschen mit seiner Leidenschaft und seiner Qualität berührt. Ein Orchester, das durch seine Vielfalt jeden anspricht: Kinder ebenso wie Klassik-Laien oder Musik-Experten. Ein Orchester, das durch die Qualität seiner Musik begeistert, durch seine Genauigkeit und Durchhörbarkeit. Ein Orchester, in dem die Rolle eines jeden hörbar wird, in dem jede einzelne Stimme wichtig ist. Ein Orchester, in dem sich jede und jeder mitgenommen fühlt. Wir beobachten derzeit leider an vielen Orten, dass die klassische Musik es nicht so leicht hat, dass manche Orchester sogar zur Debatte stehen. Umso wichtiger ist es, dass ein Orchester, das traditionell so tief in seiner Stadt verankert ist wie die Wiener Symphoniker, eine Vorreiterrolle übernimmt.
Sie haben als Kontrabassist in der Staatskapelle Dresden gespielt. Was haben Sie da über den Beruf des Dirigenten gelernt?
Die Gefahr ist groß, dass die Musik für Musikerinnen und Musiker, die fast jeden Abend spielen, zur Routine wird – zum „Dienst“. Das liegt in der Natur der Sache. Und, ja: Ich habe das selbst erfahren, es gibt Dirigentinnen und Dirigenten, die nicht wirklich vermitteln, warum das aktuelle Programm an dem Ort, an dem es aufgeführt wird, gerade wichtig ist. Die Angst davor haben, Fehler direkt anzusprechen, um den Frieden im Orchester nicht zu gefährden. Aber ich glaube, das ist der falsche Ansatz. Als Musiker habe ich mir nichts mehr gewünscht, als inspiriert zu werden, als Ideen aufzunehmen und mit allen Kolleginnen und Kollegen ernsthaft an der bestmöglichen Interpretation zu arbeiten. Ich will mitgenommen werden, ich will mich entwickeln – das ist, warum wir diesen Job einmal begonnen haben. Aus Leidenschaft! In meiner Arbeit mit den Wiener Symphonikern habe ich genau diese Neugier im Orchester gespürt, den Spaß an der gemeinsamen „Geburt“ von Musik, an diesen Momenten, wenn alle merken: „Jetzt passiert etwas!“ Und diese Augenblicke erreicht man nur mit Ehrlichkeit, wenn es wirklich zur Sache geht, wenn alle spüren, dass wir gerade ein neues Level erreichen. Mir geht es darum, das Miteinander innerhalb der einzelnen Gruppen ebenso zu optimieren wie das Zusammenspiel der Gruppen untereinander. Das macht am Ende die Qualität eines Orchesters aus.
Mit welchen Mitteln kann ein Dirigent das erreichen?
Er muss selber genau wissen, was er wann und warum tut. Auf lange Sicht bin ich außerdem davon überzeugt, dass es wichtig ist, eine Vielfältigkeit und Beweglichkeit im Orchester zu entwickeln. Ob Barock, Klassik, Romantik, Moderne oder Gegenwart - es darf kein Genre geben, auf das ein Orchester wie die Wiener Symphoniker keinen Zugriff hat. Es wäre nicht zielführend, wenn wir uns da selbst kastrieren würden.
Das ist interessant, denn lange Zeit hatten wir es ja mit Spezial-Ensembles zu tun, die sich besonders auf eine Musikform konzentriert haben: die Romantik oder das Barock …
Es ist auch wichtig, dass es diese Ensembles weiterhin gibt. Die Musikgeschichte wäre eine andere ohne Experten wie Nikolaus Harnoncourt! Was ich bei ihm besonders geschätzt habe, war übrigens, wie er ganz unterschiedliche Orchester durch sein ungeheures Wissen begeistert hat. Dirigenten sollten immer Antworten auf das „Warum?“ finden. Ich glaube aber auch, dass ein Orchester wie die Wiener Symphoniker, das Orchester einer ganzen Stadt, die Musik als Ganzes begreifen sollte, die Musikgeschichte als großen Bogen, in dem die Epochen sich gegenseitig inspirieren. Mit dem Wissen um Bach spiele ich auch Mozart anders, mein Wissen um Mozart verändert meinen Beethoven und mein Wissen um Beethoven beeinflusst meinen Wagner – der wiederum meinen Schönberg. Außerdem bin ich fest davon überzeugt, dass das Spielen von Mozart für ein Orchester so etwas sein muss wie das Zähneputzen. Mozart gehört zur alltäglichen Klanghygiene!
Gehen wir kurz Ihr Programm in der Jubiläumssaison durch. Zum Antrittskonzert bringen Sie einen Ihrer großen Helden mit: Béla Bartók…
… oh ja, ganz bewusst!
Warum?
Weil Bartók für so vieles steht, was mich auch als Komponist begeistert. Ich schlage eine seiner Partituren auf, und sie sind immer ein Quell der Inspiration. Das Besondere an Bartók ist, dass er auf der einen Seite hochkomplex komponiert, dass die Komplexität bei ihm aber nie Selbstzweck ist, sondern stets Mittel, um einen noch verständlicheren Ausdruck zu erreichen. Bartók vereint das spielerische Moment und die Sinnlichkeit beim Hören. Ich kenne kaum Komponisten, die so kluge Musik geschrieben haben, die das Publikum gleichzeitig anspringt und mitnimmt. Für mein Antrittskonzert war Bartók natürlich auch wichtig, weil in seiner Musik jede Orchestergruppe gefordert wird, weil der Klang bei ihm nur im Miteinander von allen entsteht.
Wir erleben diese Saison auch große Klassiker, die jeder kennt. Etwa die Vier letzten Lieder von Richard Strauss.
Diese Musik gehört für mich zum Kernrepertoire der Wiener Symphoniker, und zwar genau so, wie wir sie zeigen: mit einer der wohl besten Sängerinnen für dieses Fach in unserer Zeit –Asmik Grigorian. Wir kontrastieren Strauss mit Gottfried von Einem. So entsteht ein Dialog aus vielen, kleinen und kurzweiligen Teilen. Das ist kein Langstrecken-Programm, sondern ganz bewusst eine Aneinanderreihung kleiner musikalischer Momente, die miteinander in Verbindung gebracht werden.
Das Mozart-Programm, das Sie dirigieren, scheint eine geheime Botschaft zu haben: Prag!
Das haben Sie sehr richtig erkannt! Nicht allein, weil die Prager Symphonie auf dem Programm steht. Ich muss sagen, dass ich auf dieses Konzertprogramm sehr, sehr stolz bin. Meine Heimat Tschechien war ja nicht ganz unwesentlich für Mozart. Wir spielen an diesem Abend auch die Konzertarie Bella mia fiamma, addio. Mozart hat sie 1787 für einen seiner Förderer und Gastgeber komponiert, besser gesagt: für dessen Frau. Josefína Dušková war eine bekannte Sängerin, und es gibt die Anekdote, dass sie Mozart so lange in eine Kammer gesperrt hat, bis er ihr diese Arie komponiert hat. Ich habe ja lange selber im Orchester gespielt und nie verstanden, warum Konzertarien so selten auf den Programmen von Symphonieorchestern stehen. Ich muss sagen: Ich liebe dieses Genre, und diese Arie von Mozart ist unendlich schön. Und dann führen wir auch noch die Idomeneo-Suite von Busoni auf. Idomeneo ist eine jener Mozart-Opern, die ich ganz besonders verehre.
Man musste Sie wahrscheinlich nicht in eine Kammer sperren, bis Sie das Jubiläums-Programm für den 30. Oktober 2025 zusammengestellt hatten, oder?
Natürlich nicht. Auf dieses Programm läuft ja die ganze Jubiläumssaison hinaus, ein großer Teil des Selbstverständnisses der Wiener Symphoniker: Ravels Konzert für die linke Hand und Alban Bergs Sieben frühe Lieder sind Stücke, die das Orchester uraufgeführt hat, und Mozarts „Jupiter-Symphonie“ ist ein Stück, das ich mir persönlich für diesen Anlass gewünscht habe. Dass wir uns in dieser Jubiläumssaison so intensiv mit der Geschichte des Orchesters auseinandersetzen, ist ein guter Anfang, um die Tradition der Wiener Symphoniker danach in eine neue Phase zu überführen.
Was ebenfalls auffällt ist, dass Sie sehr viel mit dem Orchester reisen werden: zwei Mal durch Europa, dazwischen zur Residenz nach Triest und nach China.
Nirgends kann man so intensiv arbeiten wie auf einer Tournee. Normalerweise studiert man einen Abend ein, spielt ihn zwei Mal – und dann folgt das nächste Programm. Tourneen sind anders, sie schweißen das Orchester zusammen. Das Repertoire wird einstudiert und dann vier, fünf oder sechs Mal aufgeführt. An jedem Abend die gleichen Noten – und idealerweise: jeden Abend mit gleicher und neuer Begeisterung. Das ist, als würde man jeden Abend das Gleiche essen, aber immer mit anders gedeckten Tischen und neuen Gästen. Ich halte das für eine große, gemeinsame Herausforderung. Ganz abgesehen davon, dass man sich nirgends besser kennenlernen kann als auf Reisen, wenn man zusammen lebt, gemeinsame Abenteuer erlebt und jeden Abend aufs Neue den Klang der Wiener Symphoniker in der Welt vorstellt. Ich freue mich ungeheuer auf diese Zeit, aber mindestens genauso auch darauf, endlich loszulegen und unsere Konzertsäle in Wien, das Wiener Konzerthaus und den Musikverein, mit Klängen zu füllen.