Puls der Stadt

Puls der Stadt

Unsere Stadt ist unsere Bühne
Musikerin mit Fahrrad am Donaukanal

von Walter Weidringer

"Draußt in Hietzing gibt’s a Remasuri“: So singen voller Begeisterung der gräfliche Kammerdiener Josef und seine Freundin Pepi Pleininger, ihres Zeichens Probiermamsell, in der Operette Wiener Blut, die Adolf Müller aus Tanzmusik von Johann Strauss Sohn zusammengestellt hat – 1899, im Todesjahr des Komponisten, und damit knapp vor der Gründung der Wiener Symphoniker: Unter dem Namen Wiener Concertverein gaben sie bekanntlich am 30. Oktober 1900 unter ihrem Chefdirigenten Ferdinand Löwe ihr Gründungskonzert im Musikverein. Die Remasuri, sie benennt im Wienerischen eine Ansammlung, einen Wirbel – und wer könnte sich schönere Wirbel vorstellen als die musikalischen? „Picksüss’ Hölzl a dabei – / Harfenisten, Dudlerei – / Ah, da wird’s heut’ fein!“
Wenig später waren auch die heutigen Wiener Symphoniker in ihrer ersten Inkarnation schon für diese oder jene Remasuri abseits des großen Musentempels verantwortlich, noch bevor ihnen neben dem Musikverein ein zweiter Stützpunkt des Wahren, Guten und Schönen zuwachsen sollte, ja überhaupt ein zweites Hauptquartier, nämlich in Gestalt des Wiener Konzerthauses. Sie griffen damit eine längst selbstverständliche, beliebte Tradition auf, die den Ort genauso betraf wie die Art der Programme – im Volksgarten etwa, im dortigen, allseits beliebten Cortischen Caféhaus und seiner halbrunden Säulenhalle. Dort hatte nämlich schon 1841, Johann Strauss Vater mit seiner Kapelle zwischen unterhaltsamen Werken aus eigener Feder das Andante aus Beethovens Fünfter Symphonie und die Ouvertüre zu Fidelio aufs Programm gesetzt, „ohne befürchten zu müssen, sein Publikum, das durchaus aus einfachen Bürgern und tanzfreudigen jungen Menschen aus den nahen Vorstädten bestand, mit diesen volksbildnerischen Ambitionen abzustoßen“, wie Kurt Dieman später schrieb. Johann Strauss Sohn ging den entscheidenden Schritt weiter: Während der kaisertreue Papa mit seinem bis heute berühmtesten Werk 1848 die Niederschlagung des nationalitalienischen Aufstands in der Lombardei und den siegreichen Feldmarschall Radetzky feierte, sympathisierte der Filius offen mit den Revolutionären – und dazu passt auch sein Eintreten für die umstürzlerische, narkotisierende und gerade auch unter Fachleuten höchst umstrittene Musik des Gottseibeiuns jener Zeit: Richard Wagner. Die Wiener Hofoper war noch gar nicht kläglich an der Uraufführung von Tristan und Isolde gescheitert (nach nicht weniger als 77 Proben!), da hatte Strauss Sohn mit seiner spieltechnisch famosen Kapelle längst, nämlich 1860, den staunenden Wienern im Tristan-Vorspiel nebst Liebestod in eigener Fassung vor Ohren geführt, wie sich die chromatischen Windungen, polyphonen Verästelungen und harmonischen Volten von Wagners wohl kühnster Komposition anfühlten – und nicht wenige reale Gegenstücke des eingangs erwähnten Paares Josef und Pepi müssen sich unter den aufgewühlten Zuhörern befunden haben. Es sind unerhörte und zugleich so naheliegende Vorarbeiten wie diese, die zeigen, wie eng das vermeintlich bloß Populäre und das Kühnste, Modernste zusammenarbeiten konnte: vor ein und demselben Publikum.
In genau dieses Horn stieß dann mit frischem Mut auch das neue Orchester – und empfand sich zugleich den hehren Klassikern verpflichtet wie auch als legitimer Nachfolger der integrativen, nicht auf vermeintliche Standes- und Stilgrenzen achtenden Programmpolitik der Strauss-Dynastie: Kapellmeister wie Karl Komzák und ab 1905 vor allem Martin Spörr erfreuten ein bunt gemischtes Publikum mit „volksthümlichen Concerten“, gerade auch im Volksgarten, in Hietzing oder Meidling. Und wer zum Beispiel bei einzelnen symphonischen Sätzen Lust auf mehr bekam, ließ sich bei ohnehin erschwinglichen Eintrittspreisen auch in den Musikverein zu den „seriösen“ Veranstaltungen mit vollständigen Werken locken. So zumindest die Theorie – denn in der Praxis sollte sich bald zeigen, dass das Publikum sozusagen weiter war als angenommen: „Schon kurze Zeit nach Einführung der vom Concertcerein gespielten Populärkonzerte stellten die Veranstalter mit unverhohlener Befriedigung fest, daß zunehmend seriösere Programme (mit kompletten Symphonien und einheitlichem Programmniveau) nicht nur möglich sind, sondern vom Publikum ausdrücklich verlangt werden“, stellt der Historiker und frühere Symphoniker-Oboist Ernst Kobau fest.

Arbeiterschaft und reisende Virtuosen

Am 28. Dezember 1905 starteten zudem auf Betreiben von David Josef Bach, Feuilletonredakteur der Arbeiter-Zeitung und Freund Arnold Schönbergs, die legendären Arbeiter-Symphoniekonzerte im Musikverein – mit Webers Oberon-Ouvertüre, Klavierliedern von Wolf, Orchesterliedern und der Tannhäuser-Ouvertüre von Wagner sowie Beethovens Eroica unter Löwe. „Ungefähr achtzig Jahre zuvor“, erinnerte sich Bach später, hatte die Gesellschaft der Musikfreunde „eine neue Schicht, das Bürgertum, als Träger der Musikpflege in Österreich und besonders in Wien der Welt gezeigt. An jenem Abend spielte zum ersten Mal die Arbeiterschaft eine sichtbare Rolle in der Geschichte der Musikpflege Wiens.“ In diesem Ambiente sollte 1913, als einer von zahlreichen prominenten Gastdirigenten schon in der Frühzeit des Concertvereins, der junge Wilhelm Furtwängler sein Wien-Debüt geben – übrigens zusammen mit dem kaum 16-jährigen Georg Szell am Klavier. Die sogenannte musikalische Hochkultur war nicht mehr bloß den Betuchten vorbehalten, und die Arbeiter-Symphoniekonzerte wurden – trotz anfänglicher Skepsis hochrangiger sozialdemokratischer Politiker – im wahrsten Sinne populär. Darüber sollte freilich die Paradoxie nicht vergessen werden, dass die qualifizierten Facharbeiter im Publikum in der Regel ein höheres Einkommen bezogen als die Musiker auf dem Podium, die im Prekariat gefangen waren: Nebenverdienste in Kurorchestern, etwa in Baden oder als ganzes Orchester im bayerischen Bad Kissingen, waren gerade in den Sommermonaten noch lange unverzichtbar. Und auch der Auftritt in „Begleitkonzerten“, wo sie reisenden Virtuosen eine klangliche Bühne boten, unter ihnen die Geiger Pablo de Sarasate, Eugène Ysaÿe, Fritz Kreisler oder Bronisław Huberman, die Pianisten-Komponisten Eugene d’Albert und Ernst von Dohnányi sowie der Cellist Pablo Casals. Da ist es gedanklich nur ein Katzensprung etwa zum Festwochen-Auftritt der Wiener Symphoniker auf dem Rathausplatz mit der auf ihrem ureigenen Gebiet nicht minder umjubelten Conchita Wurst 2017 nebst nachfolgender CD-Produktion.

Gegenpol zur Militärmusik

Doch zurück ins Jahr 1907, wo dem Concertverein und seinem Orchester plötzlich eine Konkurrenz erwuchs: Gleichfalls auf Basis eines Vereins wurde nämlich das Wiener Tonkünstler-Orchester ins Leben gerufen – und die Meinungen gehen auseinander, ob das damals eine aufgrund wachsender Nachfrage auf der Hand liegende Erweiterung des musikalischen Angebots der Stadt darstellte oder vielleicht doch eher eine keineswegs von vornherein Glück verheißende, also eher kühne Unternehmung. Es zählt zu den großen Brüchen und Verwerfungen der österreichischen Orchestergeschichte, dass dieses Wiener Tonkünstler-Orchester eben kein Vorläufer der heutigen Tonkünstler war, sondern mittelfristig auf institutioneller wie auch personeller Ebene in die Frühzeit der späteren Symphoniker eingemeindet wurde und in ihr aufgegangen ist. Wie im Merkreim die Quellflüsse Brigach und Breg die Donau, sollten Concertverein und Tonkünstler schließlich die Symphoniker zu Weg’ bringen: Die durch den Ersten Weltkrieg bedingte, eigentlich vorübergehend gedachte Fusion der Klangkörper zum Wiener Sinfonie-Orchester, die ihren beiden Konzertreihen den Fortbestand ermöglichte, musste in der neu geborenen Ersten Republik schon aus wirtschaftlichen Zwängen beibehalten werden, bis das Provisorium, vielleicht typisch österreichisch, sich in einen wohlgelittenen Dauerzustand verwandelte. Doch wer hätte gedacht, dass dem Orchester, das erstmals ab 1933 endlich auch den vertrauten Namen Wiener Symphoniker trug, die schlimmsten Zeiten noch bevorstanden? Das „Fest der Freude“ am Heldenplatz erinnert seit 2013 jedes Jahr am 8. Mai an die Befreiung von den Schrecken der Nazidiktatur und des Krieges. 2022 steht dabei Lahav Shani am Pult.

Aber nochmals in der Geschichte retour zu dieser zweiten Symphoniker-Quelle: Zunächst ging es beim Tonkünstler-Orchester auch darum, den wie schon angedeutet oft an der Armutsgrenze agierenden Zivilmusikern Verdienstmöglichkeiten zu verschaffen, da sie angesichts der Auftritte populärer (und ohnehin gut besoldeter) Militärkapellen in einem ständigen Kampf um ihr täglich Brot lagen. Da konnte es durchaus vorkommen, dass ein Klarinettist auf Violine umschulte, wie es Kobau etwa von jenem Ernst Dörfler berichtet, der von der Holzbläsersektion des Concertvereins zu den Sekundgeigen der Tonkünstler wechselte. Dieser neue Klangkörper war, so Dörfler als Zeitzeuge dieser Frühzeit, „eigentlich als populäres Orchester für leichte Musik gedacht, und sollte im Annahof, beim Weigl, in Hietzing, Türkenschanzpark, Volksgarten, Wilden Mann, Auge Gottes, Sofiensaal, Ronacher, Arbeiterheim Favoriten und Arbeiterheim Ottakring u. dgl. Fuß fassen, um den immer mehr um sich greifenden Militärkapellen einen wirksamen Gegenpol zu bieten.“ Dem musikalischen Niveau tat die vermeintlich mindere Ausrichtung keinen Abbruch. Schon anlässlich des Debütkonzerts waren hymnische Kritiken zu lesen, in denen vor allem die Klangqualität sowohl der einzelnen Gruppen als auch des Tutti sowie die rhythmische Präzision gerühmt wurden. Und ein Chefdirigent wie Oskar Nedbal sorgte für durchaus anspruchsvolle Programme mit Novitäten auf der Höhe der Zeit.

Die DNA des Orchesters

Aber was für eine illustre Sammlung von heute nicht mehr durchwegs bestehenden oder auch nur als historische Erinnerung präsenten Spielorten liefert Dörfler im Rückblick: abseits der inneren Tempelbezirke der so genannten Hochkultur, aber dafür direkt am Puls der Stadt, dort, wo es dem Vergnügen galt und zugleich das Verlangen nach dem pikanten Neuen gestillt werden wollte. Der Ballsaal des St.-Anna-Hofes neben der Annakirche in der Inneren Stadt; der Dreherpark mit der extra dorthin umgesiedelten Katharinenhalle in Meidling, betrieben vom zunächst in Hernals erfolgreichen Unternehmer Johann Weigl; der Türkenschanzpark und das Wirtshaus „Zum wilden Mann“, beides in Währing; der schon mehrfach erwähnte Volksgarten; das Hotel „Auge Gottes“ mit großem Ballsaal in Alsergrund; die später auch als Aufnahmestudio legendär gewordenen Sofiensäle im Bezirk Landstraße; das Ronacher in der Seilerstätte, damals geradezu ein Beherbergungs- und Veranstaltungszentrum; die genannten Arbeiterheime und mehr: All die von Dörfler genannten Podien gehören untrennbar zur Frühgeschichte der Wiener Symphoniker, und das dort dargebotene Repertoire hat sich in die Summe spieltechnischer Erfahrungen eingespeist, die als Interpretations- und Klangkultur von Generation zu Generation und von Pult zu Pult weitergegeben werden und somit gleichsam die DNA des Orchesters bilden. Um nur bei den Werken der Strauss-Dynastie zu bleiben: Die Philharmoniker haben sich ihnen erst spät in ihrer Geschichte punktuell zu widmen begonnen und ausgerechnet in dunkelster Zeit, nämlich 1939, jene Konzerte begründet, ohne die sich heute viele Menschen den Jahreswechsel kaum mehr vorstellen können. Aber: Wäre dieses Konzert das einzige seiner Art, hätte es dennoch seinen Zweck verfehlt – weil seine Wurzeln in trockenem Boden verdorrten. Sein musikalischer Humus muss nämlich ständig und umfassend neu aufbereitet und perfektioniert werden, für nachwachsende Musikerinnen und Musiker ebenso wie fürs Publikum. Denn der Walzer ist das unerlässliche Bindeglied zwischen Schubert und der klassischen Moderne. Jedes Orchester, das auf seine wienerisch-österreichische Tradition hält, muss deshalb diese Werke pflegen, sonst wäre es irgendwann vorbei mit seiner besonderen Spielkultur, bei der die Phrasen auf einem subtil modifizierten Rhythmus schweben. Die Wiener Symphoniker tun das traditionell nicht zuletzt beim Konzert „Frühling in Wien“ im Musikverein und im Wiener Konzerthaus, das auch unter dem Chefdirigenten Andrés Orozco-Estrada weiterhin Wienerischen Charme mit internationalem Flair verbindet.

Künste und Sinne vereint

Selbstverständlich sind die Wiener Symphoniker auch wieder im Theater an der Wien präsent, wo ihre direkten Vorfahren schon 1908 populäre Sonntagsmatineen gegeben und wo sie selbst 2006 das Eröffnungskonzert der traditionsreichen Bühne als „Das neue Opernhaus“ der Stadt bestritten haben: 2021 steht eine Neuproduktion von Alfredo Catalanis in Tirol angesiedeltem Verismodrama La Wally an. Beim Abschlusskonzert des Festivals Wien Modern widmen sie sich unter Leitung des Komponisten und Dirigenten Beat Furrer ebenso neuer und neuester Musik wie im Volkstheater: Dort wirken die Wiener Symphoniker nämlich an der Aufführung von Ragnar Kjartanssons Stück Der Klang der Offenbarung des Göttlichen mit, für das Kjartan Sveinsson, ein ehemaliges Mitglied der berühmten isländischen Postrock-Band Sigur Rós, die aufwändige Musik geschrieben hat. Ein besinnliches Adventkonzert im Stephansdom, für das auch einiger Starglanz in Aussicht gestellt ist, fügt sich da zwanglos in die enorm breite Palette ein, die das vielseitige Orchester auf immer neue Weise fordert und zum Glänzen bringt.
Aber wie rege die Wiener Symphoniker in der Saison 2021–22 wirklich „Unterwegs in Wien“ sein und die Stadt gleichsam mit Musik fluten werden, zeigt sich natürlich vor allem andernorts: in teils bereits für musikalische Darbietungen etablierten, beliebten Arealen wie dem Hof des MuseumsQuartiers, der gleich zweimal zum Schauplatz von Open-Air-Konzerten wird, bei einem weiteren Freiluftkonzert für die ganze Familie im Prater – oder bei den ohnehin schon traditionellen Grätzl-Konzerten in Meidling, Liesing und Favoriten.
Das vielfältige Orchestererbe der Präsenz an vielen, nicht unbedingt mit klassischer oder überhaupt einer Musik verbundenen Orten der Stadt treten die Wiener Symphoniker also nun bewusster und umfassender denn je an. Besonders anregend verspricht eine neu geschaffene Kammermusikreihe im Kunsthistorischen Museum zu werden, weil sie verschiedene Künste und Sinne vereint anspricht – thematisch fein abgestimmt auf berühmte Exponate sowie jeweils aktuellen Sonderausstellungen des Hauses: Musikgenuss verschiedener Ensembles, die sich aus dem Orchesterpool rekrutieren, Museumseintritt und Spezialführung, alles mit einem einzigen Ticket. Das öffnet nicht nur Türen zum und im Museum, sondern auch in Herz und Hirn.
So präsentieren sich die Wiener Symphoniker als Quelle ganz verschiedener, aber durchwegs erstklassiger Remasuri: Den „Puls der Stadt“ nicht bloß zu messen, sondern ihn im Publikum auf die schönste, gesundeste Weise höherschlagen lassen, das ist ihr Ziel.