MUSIKALISCHER SPAZIERGANG DURCH WIEN
MUSIKALISCHER SPAZIERGANG DURCH WIEN
Als ich vor nun fünf Jahren in Wien angekommen bin, als Fremder, mit der Vorfreude auf ein neues Orchester, stand ich vor der großen Aufgabe, mir zunächst die Stadt zu erschließen. Klar, „Vienna, City of Music“: Wohnhäuser von Mozart, Beethoven, Brahms, Schubert oder Schumann, Wirkungsstätten von Mahler und Schönberg. Aber wie entdeckt man den Soundtrack einer modernen Metropole jenseits der touristischen Klischees? Wie den Klang des Orchesters der Stadt, der Wiener Symphoniker?
Es gibt wohl keine schönere Art, eine Stadt zu erkunden, als sich von ihr treiben zu lassen. Ich wohne nicht weit vom Prater. Im Winter herrscht hier schnee-gedämpfte Stimmung, im Sommer pulsiert die Lust nach Unterhaltung – schrille Stimmen in der Wiener Hitze. Radelt man die Hauptallee hinauf, steht man plötzlich in einem städtischen Urwald, umgeben vom Rauschen der Bäume und Zirpen der Vögel. Der Soundtrack Wiens ist unerschöpflich. Das pralle Leben in den Beisel-Vierteln, an der Schleifmühlgasse, dem Servitenviertel, der Praterstraße, oder weiter draußen, in Margareten oder Ottakring, ureigene charmante Mikrokosmen fernab der Touristenstrecken. Und dann wieder die monumentale Ruhe des Stephansdoms, eine Kathedrale der Stille, mitten in der trubeligen Stadt. Wenige Meter weiter das Klirren der Bierflaschen und der südamerikanische Tango aus der Stereoanlage am Donaukanal. Gedämpfte Ruhe empfängt uns in den Museen, staunende Stille im Kunsthistorischen, eine aufgeregte Schulklasse im Wien Museum, und Herkules und Apoll stemmen den Himmel der Nationalbibliothek ohne zu schnaufen.
Resonanzkörper der Stadt
Der Soundtrack Wiens ist vielfältig, liebenswert und zuweilen schroff wie die besten Dialoge der „Alltagspoeten“, sehnsüchtig sinnlich mit einem Bewusstsein um die große Geschichte und schrill wie ein Tanz im Bermudadreieck. Karl Kraus hat gesagt: „Die Straßen Wiens sind mit Kultur gepflastert. Die Straßen anderer Städte mit Asphalt.” Für mich ist der Himmel in Wien mit Klang erfüllt, der anderer Städte mit Luft.
Mir war schnell klar: Wien ist nicht nur die Stadt der Musik, Wien selbst ist: Musik. Ein Orchester kann hier nicht nur Sender von Klängen sein, sondern ist gut beraten, selber die Ohren aufzusperren. Es wird inspiriert von den Geräuschen seiner Heimat, seiner Menschen, vom Soundtrack seiner Stadt – von Musik aus der Vergangenheit und dem Tönen des Heute.
Was für ein Privileg, dass das Orchester der Stadt in den schönsten Sälen zu Hause sein darf, im Musikverein und dem Wiener Konzerthaus, regelmäßig – für die Oper – im MusikTheater an der Wien. Aber es ist auch wichtig, diese wunderschönen Wohnzimmer regelmäßig zu verlassen, um die Luft da draußen zu schnuppern, die Luft der Menschen, die Luft des Lebens. Und genau das machen wir immer wieder, stets neugierig. Wir feiern den kunterbunten Sommer im Prater, den besinnlichen Advent im Stephansdom, wir spielen in den Beisln der Stadt, in den Käfigen der Bezirke, in den Schulen und Sportkäfigen Wiens, und wir dialogisieren mit Kammermusik die Ausstellungen unserer Museen. Die Wiener Symphoniker sind der Resonanzkörper dieser wunderbaren Stadt.
Einer der ersten Wege, noch bevor ich mein Amt als Intendant angetreten habe, führte mich in das Archiv der Wiener Symphoniker. In einem grauen, feuerfesten Schrank im Wiener Konzerthaus fand ich den ersten „Aufruf“ für unser Orchester. „Zweck des Wiener Concert-Vereins“, stand da, „ist die Veranstaltung von Symphonie-Concerten zu mäßigen Eintrittspreisen, sowie von populären Orchester-Concerten, bei welch letzteren classische Werke in angemessener Vereinigung mit Werken leichter Art, jedoch von musikalischem Werte, aufgeführt werden sollen.“ Und dann stand da noch: „Ein Orchester, welches auch weiteren Kreisen der musikliebenden Bevölkerung Wiens den Genuss symphonischer Musik ermöglichen soll.“ Mir war klar, dass 125 Jahre später, wenn die Wiener Symphoniker Jubiläum feiern, dieser Bogen wieder geschlossen werden soll: ein Orchester mit Angeboten für alle Menschen der Stadt. Ein Orchester, mit dem jede Wienerin und jeder Wiener mindestens einmal im Jahr in Kontakt treten soll. Ein Klangkörper, der den Klang Wiens verkörpert.
Und so haben wir unseren Spaziergang Richtung Jubiläumsjahr begonnen. Unsere Spielzeiten trugen die Überschriften „Puls der Stadt“, „Inmitten der Stadt“ und „Echo der Stadt“ – und alles kulminiert im Titel dieser Jubiläums-Saison: „Orchester der Stadt“. Meine Besuche im Archiv der Wiener Symphoniker haben mir vor Augen geführt: Das Orchester soll für jeden zugänglich sein, ist aber auch ein zutiefst musikalischer Klangkörper. Begeisterung für Musik wird am leichtesten durch höchste Qualität gestiftet. Die Wiener Symphoniker vereinen seit jeher Breite und Exzellenz. Und genau das wollen wir in dieser ganz besonderen Jubiläumssaison ebenfalls abbilden.
Ich verstehe die Wiener Symphoniker als modernes Orchester. Ein Orchester, das sich der Vergangenheit bewusst ist und die Werte von gestern immer wieder in eine neue Gegenwart übersetzt. So wie sich die Stadt Wien in den letzten 125 Jahren verändert hat, haben sich auch die Wiener Symphoniker gewandelt. Denn gerade dieses Orchester war seit seiner Gründung stets dem „Jetzt“ verbunden, dem Dasein in der Stadt, dem musikalischen Leben des Heute – den Ohren der Gegenwart. Die Wiener Symphoniker haben neue Entwicklungen, demokratische und partizipative Elemente, vor allen Dingen aber innovative Kompositionen stets umarmt. Das ständig Neue ist Teil unserer Geschichte.
Unser Weg zur Jubiläumssaison hat vor vier Jahren mit einem großen Rebranding-Prozess begonnen, an dem die Musikerinnen und Musiker aktiv beteiligt waren. Optisch haben wir uns an der Jahrhundertwende orientiert, in der die Wiener Symphoniker die Werke großer Komponisten wie Arnold Schönberg uraufgeführt haben. Heuer erinnern wir mit den opulenten Gurre-Liedern an die legendäre Uraufführung im Musikverein. Schönberg selber dirigierte die Uraufführung seiner symphonischen Dichtung Pelleas und Melisande, und auch das Buch mit sieben Siegeln von Franz Schmidt war eine wegweisende Uraufführung, an die wir in der Jubiläumsspielzeit erinnern. Natürlich bleiben wir der Tradition neuer Werke treu: Marcus Nigsch wird für die Wiener Symphoniker ein Cellokonzert schreiben, das zum ersten Mal im Musikverein erklingen wird. Außerdem erinnert unsere Jubiläumssaison daran, dass die Wiener Symphoniker das Orchester der großen symphonischen Werke sind: Bruckners 9. Symphonie wurde in einer Fassung von Ferdinand Löwe vom Orchester uraufgeführt, Gustav Mahler selber dirigierte mit dem Orchester die Österreichische Erstaufführung seiner 6. Symphonie, Hans Swarowsky leitete die Uraufführung von Richard Strauss‘ Rosenkavalier-Suite im Rahmen der 950 Jahres-Feierlichkeiten für Österreich. All diese Werke stehen in der Jubiläumssaison auf dem Programm, und auch in unserem Geburtstagskonzert am 30. Oktober 2025 werden wir mit Maurice Ravels Klavierkonzert für die linke Hand an Werke erinnern, die von den Symphonikern uraufgeführt wurden.
Für die Exzellenz eines modernen Orchesters steht natürlich in erster Linie sein Chefdirigent. Und ich freue mich über die wunderbare Fügung, dass unsere Jubiläumssaison gleichsam die Antrittssaison von Petr Popelka ist. Ein Dirigent, der für mich das moderne Orchester verkörpert, der Musik als gemeinsames Abenteuer versteht, vor allen Dingen aber selber ein Musikologe und Komponist ist, der die Werke stets in Kontexte mit der Welt stellt. In seinem Antrittskonzert bringt er einen der für ihn wichtigsten Komponisten mit: Béla Bartók.
Für das Orchester sind seine Dirigentinnen und Dirigenten von enormer Bedeutung: Marie Jacquot haben wir bei den „Wohnzimmerkonzerten“ in der Corona-Pandemie kennengelernt, sie ist heute unsere Erste Gastdirigentin und wurde gerade zur designierten Chefdirigenten des WDR-Sinfonieorchesters ernannt. Ich freue mich, dass unsere einstigen und so beliebten Chefdirigenten in dieser Jubiläumssaison zurückkehren: Philippe Jordan mit Mahlers Achter und Fabio Luisi mit Schmidts Das Buch mit sieben Siegeln. Schließlich ist auch die Phalanx unserer ehemaligen Chefs Ausdruck unseres Musizierens. Wilhelm Furtwängler, Hans Swarowsky, Herbert von Karajan, Wolfgang Sawallisch oder Georges Prêtre haben uns geprägt.
Es ist immer besonders spannend für ein Orchester, wenn es den Soundtrack seiner Stadt in die Instrumentenkoffer packt und auf Tournee geht. Ich bin sehr froh, dass wir mit einem sehr bewusst ausgewählten Programm in der Jubiläumssaison anreisen: María Dueñas wird Bruchs Violinkonzert interpretieren und Marie Jacquot eine ganz bemerkenswerte Komposition dirigieren: Anton Bruckners Adagio aus der 7. Symphonie in einer Bearbeitung für 16 Blechbläser, Schlagzeug und Pauke von unserem ersten Chefdirigenten Ferdinand Löwe. Dieses bewegende Stück wurde am 11. Oktober 1896 in der Wiener Karlskirche gespielt – bei der Einsegnung des gerade verstorbenen Anton Bruckner. Auf meinen Spaziergängen durch Wien treibt es mich oft in diese wunderbare Kirche. Und ich stelle mir vor, wie ein Ensemble der Symphoniker hier das letzte Geleit für einen der größten Komponisten angestimmt hat: so intim, so berührend, so schön. Das sind für mich wahre Wiener Gänsehautmomente. Und ich bin sicher, dass das Publikum in der Elbphilharmonie in Hamburg, in der Alten Oper Frankfurt oder in der Liederhalle in Stuttgart bei diesem Stück plötzlich jene einmalige Wiener Luft atmen wird, die voller Musik ist.