Alle Neune!
Alle Neune!
Ludwig van Beethoven
Der erste Wiener Beethoven-Zyklus 1900
von Michael Krebs
Die Wiener Symphoniker wurden 1900 unter dem Namen Wiener Concertverein gegründet, um „den längst gehegten Wunsch nach einem ständigen Symphonieorchester, welches den Genuß ernster symphonischer Musik weiteren Kreisen zugänglich machen sollte“, zu verwirklichen. Ziel war es, so das Gründungs-Komitee weiter, „gute Musik in möglichst guter Ausführung, jedoch zu möglichst billigen Preisen“ anzubieten. Die Reaktion des Publikums verdeutlicht, wie groß die Nachfrage nach professionellen Symphonie-Konzerte geworden war: Die zwölf Abonnement-Termine der ersten Saison 1900–01 waren innerhalb kürzester Zeit ausverkauft, Einzelkarten keine mehr zu bekommen.
Vorausgegangen war eine Situation, die der einflussreiche Musikkritiker Eduard Hanslik als den „stark verspäteten Charakter des Concertwesens in Wien“ beklagt hatte. Die Bedingungen für die Pflege des symphonischen Repertoires hatten im ausgehenden 19. Jahrhundert weder den sich verändernden Erfordernissen, noch der steigenden Nachfrage immer breiterer Bevölkerungsschichten entsprochen. Zwar gab es seit der Eröffnung des Wiener Musikvereins endlich einen akustisch exzellenten Aufführungsort, doch das hauseigene Orchester setzte sich vorrangig aus Amateurmusikern zusammen und verfügte zudem über kein konstantes Personal. Die Wiener Philharmoniker waren demgegenüber zwar unbestritten Meister ihres Fachs, doch sie konzertierten vergleichsweise selten. Es war also höchste Zeit für ein neues Orchester für Wien und so schlug mit der Jahrhundertwende die Geburtsstunde der Wiener Symphoniker – wenngleich, wie wir gesehen haben, zunächst noch unter anderem Namen. Die Presse reagierte begeistert: Durch die Gründung des Wiener Concertvereins sei „erst System in die öffentliche Musikpflege“ (Das Vaterland, 2.12.1900) getreten, nun endlich werde das symphonische Repertoire in seiner vollen Breite „in möglichst vollendeten Wiedergaben“ (Reichspost, 7.12.1900) zugänglich gemacht.
Nicht nur was die Musik der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit anbelangte hatte das Wiener Konzertwesen viel nachzuholen. Auch bei den Werken jenes Wahlwieners, der wie kaum ein anderer Bezugspunkt für das symphonische Schaffen des 19. Jahrhunderts war, gab es noch genug zu tun. Die Rede ist von Ludwig van Beethoven, dessen Symphonien – zu Beginn des 20. Jahrhunderts „erst“ 75 (Neunte Symphonie) bis 100 (Erste Symphonie) Jahre jung – freilich seit ihrer Entstehung kontinuierlich im Konzertleben präsent waren. Spätestens seit Richard Wagner die Neunte zum Gipfel- und Schlusspunkt der symphonischen Gattung stilisiert hatte (um freilich gleichzeitig seine eigenen Überlegungen zum Gesamtkunstwerk daran anzuknüpfen), war ihr Platz in der Musikgeschichte unbestritten: Der Musik Beethovens kam, wie es Theodor Helm, einer der damals profiliertesten Kritiker Wiens, formulierte, „in der Instrumentalmusik die führende Rolle im 19. Jahrhundert“ zu (Pester Lloyd, 28. Dezember 1900).
Nichtsdestotrotz musste in der Stadt ihrer Entstehung mehr als ein Dreivierteljahrhundert bis zur ersten zyklischen Aufführung aller neun Symphonien Beethovens vergehen. Initiator war kein anderer als Ferdinand Löwe, Chefdirigent des neugegründeten Wiener Concertvereins. Der gebürtige Wiener zählte nicht nur zu den wichtigsten Vorkämpfern der Musik seines Lehrers Anton Bruckner, sondern setzte in seiner Heimatstadt auch als „vortrefflicher Beethoven-Dirigent“ (Deutsches Volksblatt, 20. März 1901) Maßstäbe. Und so brachte der Wiener Concertverein unter Löwes Leitung gleich in seiner ersten Saison im Zeitraum von November 1900 bis März 1901 endlich erstmals in Wien alle Symphonien Beethovens zur zyklischen Aufführung. Was im heutigen Konzertleben längst etablierte Praxis ist, war damals eine absolute Neuerung. Begeisterte Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Max Kalbeck lobte im Neuen Wiener Tagblatt den „glücklichen Einfall“, der den Konzertprogrammen ihren „unverrückbaren, festen und widerstandsfähigen Mittelpunkt“ gab (6. Dezember 1900). Der Andrang des Publikums war enorm. Im Falle der Neunten Symphonie mussten 600 Interessenten für Karten abgewiesen werden – und das, obwohl man schon auf die steigende Nachfrage reagiert und zwei Spieltermine veranschlagt hatte. Auch die Presse zeigte sich begeistert: „Alles so klar, so stilvoll, so richtig im Tempo und in den Nuancen hingestellt und in dieser herrlichen Interpretation (…) erklang das Werk wie eine höhere Offenbarung.“ (Die Reichspost, 4. April 1901). Wer keine Karten bekommen hatte, sollte ab nun regelmäßig Gelegenheit bekommen, Beethovens Symphonien in ihrer Gesamtheit zu lauschen: In seiner bis 1925 dauernden Amtszeit als Chefdirigent interpretierten Löwe und das Orchester insgesamt vier Mal den Zyklus der neun Symphonien Beethovens.