Begegnung in Musik

Begegnung in Musik

Chefdirigent Andrés Orozco-Estrada in der Saison 21-22
Andrés Orozco-Estrada

von Walter Weidringer

"Vindobona, Heil und Glück, Welt, dein großer Augenblick!“, jubelt der Chor am Schluss von Beethovens Kantate Der glorreiche Augenblick op. 136, und das Orchester stimmt in den Triumph mit ein. Die großen, überwältigenden Momente der Musik sind es, um deretwillen es uns in den Konzertsaal zieht, ins Opernhaus und auch immer öfter an weitere Orte der Stadt, wo uns die hehren Klänge überraschen mögen und ihr Zauber auf andere Weise wirksam wird: im wunderbaren Hof des MuseumsQuartiers etwa. Für die Wiener Symphoniker und ihren Chefdirigenten Andrés Orozco-Estrada ist es jedenfalls hier wie dort der höchste Auftrag, das Publikum mit packenden Werken aus Vergangenheit und Gegenwart in den Bann zu ziehen – sei es auf den angestammten Podien in Konzerthaus und Musikverein sowie im Graben des Theaters an der Wien, sei es bei Tourneen im In- und Ausland. Zum Beispiel eben mit dem Wiederaufleben jener Beethoven-Akademie von 1814 aus der Zeit des Wiener Kongresses, mit der der Komponist einen der rauschendsten Erfolge seines Lebens feiern konnte. Die eingangs genannte Kantate, das Schlachtengemälde Wellingtons Sieg, das eine entscheidende Niederlage der napoleonischen Truppen hymnisch feiert, und der Freudentaumel der Symphonie Nr. 7: Das verspricht auch nach über zwei Jahrhunderten noch ein Erlebnis von singulärer Intensität, diesmal mitgestaltet u. a. von der Wiener Singakademie.

Neue Wege des Hörens und Erlebens

Der Wiener Singverein tritt hingegen an, wenn es gilt, Haydns Jahreszeiten Klang werden zu lassen, das mitreißende Oratorium mit seiner von Rousseau stammenden, aber längst wieder brennend aktuell gewordenen Botschaft „Zurück zur Natur!“ Und man darf bei aller Erhabenheit auch wieder einmal schmunzeln über Haydns Erfindungsgeist: „Einen so komischen Kontrapunkt und eine so besoffene Fuge habe ich noch nie geschrieben“, meint er selbst zur Musik der Weinlese im Herbst. Vollends werden die Lachmuskeln beansprucht, wenn in der Reihe „Hauskonzert“ die Symphonie Nr. 60 erklingt, nicht von Ungefähr Il Distratto genannt: Darin wird mit zahlreichen Scherzen und Überraschungen tatsächlich ein „Zerstreuter“ porträtiert. Gemeinsam mit dem Orchester kostet Andrés Orozco-Estrada die Symphonie nicht nur musikalisch aus, er schlüsselt sie auch als Moderator auf – und beweist damit nebenbei, dass in der Musik auch ein erklärter Witz lustig ist. Überhaupt geht es ihm ganz besonders auch darum, den Neugierigen ungeahnte Wege zum Hören und Erleben zu erschließen: Wer möchte sich nicht vom strahlenden Sonnenaufgang am Beginn Richard Strauss’ Also sprach Zarathustra aus nächster Nähe überwältigen und in den Weltraum katapultieren lassen – beinah auf Tuchfühlung mit den Musikerinnen und Musikern? Die Reihe „Im Klang“ macht’s möglich. Den herkömmlichehrwürdigen Konzerterlebnissen tut das freilich keinen Abbruch, und Andrés Orozco-Estrada beschreitet dabei mit den Wiener Symphonikern die schon eingeschlagenen Wege weiter: eine spannende Mischung aus großen und raren Werken der Musikgeschichte von der Klassik bis zur Gegenwart.

Mit dabei sind international gesuchte Solistinnen und Solisten – sowie auch nicht minder glänzende Vertreter aus den eigenen Reihen des Orchesters. Konzertmeister Anton Sorokow zum Beispiel, dessen Violine sich in Graz, Salzburg und Bregenz plötzlich in eine Primadonna verwandelt und mit Rezitativgesten ein pompöses Rituell unterbricht: „O Freunde, nicht diese Töne!“, scheint sie einzuwenden – und tatsächlich schwenkt das Orchester daraufhin um und präsentiert ein wesentlich leichtgewichtigeres Thema für dieses Final-Rondo der Symphonie concertante, über das sich dann die Violine zusammen mit den Solistenkollegen Cello, Oboe und Fagott den ganzen geistsprühenden, virtuosen Satz lang lustig zu machen scheint: Natürlich, Haydn!

Apropos Primadonna: Keine Geringere als Anna Netrebko wird mit Andrés Orozco-Estrada, den Wiener Symphonikern und dem Singverein ein Programm mit Arien von Verdi, Tschaikowski und Cilea erarbeiten. Und eine echte Primadonnen-Rolle ist auch die Titelpartie von Alfredo Catalanis La Wally, die im Theater an der Wien herauskommt – von jener packenden Verismo- Oper über das Schicksal der Geier-Wally also, deren zentrale Arie ein auch in Film-Soundtracks wiederkehrender Hit geblieben ist.

Mahlers Hymnus auf die Liebe

Aber wir greifen vor: Mit einem Beethoven-Programm geht es auf Europa-Tournee und Rudolf Buchbinder wird mit den Klavierkonzerten von Johannes Brahms zuhause in Wien mit ebensolcher Freude erwartet wie auf einer gemeinsamen Asien-Reise. Von Anton Bruckner steht nicht nur die beliebte, glorios strahlende Symphonie Nr. 7 auf dem Programm, sondern auch der selten zu hörende 150. Psalm, dessen ekstatische Halleluja-Gesänge der Singverein anstimmt. Im Vergleich zu Gustav Mahlers Dritter zieht dieses Bruckner’sche Gotteslob im Nu vorüber, ist diese doch eine der umfangreichsten und zugleich eindrucksvollsten Symphonien überhaupt: Himmel und Erde klingen darin, Worte aus Nietzsches Zarathustra werden ebenso bemüht wie solche aus der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn – und am Ende steht ein großartiger Hymnus auf die Liebe. Dame Sarah Connolly führt in Wien und Budapest mit majestätischem Mezzosopran die Sangesscharen an, und Andrés Orozco-Estrada wird sich nicht nur in diesem musikalischen Weltendrama als Klangregisseur beweisen, der mit den Wiener Symphonikern alle Register zieht, sondern auch in Mahlers Erster, deren Finale einen euphorischen Triumph feiert.

Ganz anders Antonín Dvořáks Siebte, die sich erst auf den allerletzten Takten von d-Moll erlösend nach D-Dur wendet: eine fesselndes, düster-heroisches Werk, zugleich aber tänzerisch und kantilenenreich. Diese Worte passen auch nicht übel auf Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1, dessen langsame Einleitung mit ihrer hoheitsvollen Des-Dur-Kantilene zu den berühmtesten Melodien der Romantik gehört. Jenseits davon lauert freilich ein atemberaubend virtuoser „Kampf zweier ebenbürtiger Kräfte“, also von Klavier und Orchester, wie Tschaikowski selbst anmerkte: Martha Argerich wird mit den Wiener Symphonikern die Klingen kreuzen – rein freundschaftlich, versteht sich, mit Andrés Orozco-Estrada gleichsam als genießerischem Schiedsrichter.

Zeugnis eines unverhohlenen Kampfes ist freilich auch Dmitri Schostakowitschs Symphonie Nr. 5, mit der sich der Komponist nach der offiziellen Maßregelung durch die stalinistischen Parteibonzen reumütig zeigte und die „praktische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik“ lieferte – zumindest an der Oberfläche: Denn der staatlich angeordnete, massenwirksame „Optimismus“ des Werks, vor allem sein bombastischer Schluss, ist nur Fassade. „Man muss schon ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören“, hat der Komponist seinen engsten Freunden anvertraut: Andrés Orozco-Estrada und die Wiener Symphoniker klopfen das faszinierende Werk auf diesen doppelten Boden hin ab.

Bachchoral und Kärntner Volksweise

Aber auch abenteuerliches Kopfkino ganz ohne Hintergedanken ist erlaubt: Mit den schwelgerischen Märchenbildern des Wunderkinds Erich Wolfgang Korngold, der später in Hollywood die Filmmusik prägen sollte, sowie mit Modest Mussorgskis Bildern einer Ausstellung in der glänzenden Instrumentierung von Maurice Ravel. Und auch Bohuslav Martinůs lyrisches Rhapsody-Concerto für Viola und Orchester von 1952, für das sich der Bratscher Antoine Tamestit seit Jahren einsetzt, beschwört auf ebenso intelligente wie unterhaltsame Weise romantische Erinnerungen.

Erinnerungen stehen auch beim wehmutsvoll-wundersamen Violinkonzert von Alban Berg im Zentrum, einem der bewegendsten Werke der klassischen Moderne: „Dem Andenken eines Engels“ gewidmet, nämlich der 1935 mit 18 Jahren an Kinderlähmung verstorbenen Manon Gropius, Alma Mahlers Tochter aus der kurzen Ehe mit dem bedeutenden „Bauhaus“-Architekten Walter Gropius, umweht das Konzert eine besondere Aura, indem ein Bachchoral und eine Kärntner Volksweise als bedeutsame Zitate eingewoben sind – und Berg selbst wenige Monate nach Vollendung gestorben ist: Vilde Frang bringt den Solopart zum Singen. Außerdem beschwört Andrés Orozco-Estrada mystische Klänge von Giacinto Scelsi, hebt eine Novität für Sopran und Orchester von Johannes Maria Staud aus der Taufe und plädiert zusammen mit Martin Grubinger auch für das fulminante Schlagzeugkonzert Sieidi des Finnen Kalevi Aho, in dem Klänge aus der ganzen Welt in spannenden Austausch treten: ein Symbol für die verbindende Kraft der Musik. „Jeder schien zu fühlen, ein solcher Moment werde in seinem Leben niemals wiederkehren“, schrieb Anton Schindler über die eingangs geschilderte Beethoven-Akademie. Nach diesen glorreichen Augenblicken streben die Wiener Symphoniker und Andrés Orozco-Estrada auch in der Saison 2021 – 22 mit vereinten künstlerischen Kräften.