Arnold Schönberg:

Arnold Schönberg:

Mehr als zwölf Töne
Arnold Schönberg

Arnold Schönberg in einem Selbstporträt und so weiter und so fort aus der Wien Museum Online-Sammlung aus dem Jahre 2023

Zum Jubiläum ehren die Wiener Symphoniker ihren Wegbegleiter

Text: Wilhelm Sinkovicz

Den Anfang macht die Verklärte Nacht, wie könnte es anders sein. Das ist, um ein Wort Glenn Goulds abzuwandeln, Schönberg für Leute, die Schönberg nicht mögen. Und doch: Die klangschwelgerisch üppige orchestrale Version dieses Streichsextetts nach einem erotischen Gedicht von Richard Dehmel ist ein unverwechselbares Kind des Fin de Siècle. Das legendäre „Wien um 1900“ hat den Komponisten Arnold Schönberg geprägt, wie er in den Augen und Ohren späterer Generationen das Image dieser Epoche (mit)geprägt hat. Dem Publikum ist diese Musik lieb und teuer geworden wie die Symphonien Gustav Mahlers und die Tondichtungen von Richard Strauss. Im Uraufführungsjahr 1902 galten freilich auch Mahler und Strauss als Avantgardisten - und sie hatten Anteil an Schönbergs Karriere.

Es war Mahler, der entscheidenden Anteil daran hatte, dass die Urgestalt der Verklärten Nacht, 1899 komponiert für Streichsextett, überhaupt aufgeführt wurde. Der Wiener Tonkünstlerverein hatte das Werk nämlich abgelehnt - und zwar deshalb, weil sich darin ein Akkord fand, der nach der klassischen Harmonielehre „verboten“ war! Immerhin muss man den Zensoren zugestehen, dass sie Noten lesen und „Fehler“ finden konnten. Nun war Schönbergs Musik noch durchwegs tonal gebunden und stand ganz offenkundig im Banne von Richard Wagners „Tristan“-Harmonik. Aber schon dieser „Tristan“ hätte nach Meinung vieler akustischer Sittenwächter verboten gehört.

Doch da war der kluge Kritiker Max Graf, der nach einer – übrigens vom Tonkünstlerverein veranstalteten – Aufführung des Jugend-Quartett in D-Dur über den Komponisten geschrieben hatte: „Man soll sich seinen Namen merken. Er heißt Arnold Schönberg“. Da packte Schönberg seine Partitur und legte sie dem Kritiker vor – der selbstverständlich auch Noten lesen konnte, wie man heute anmerken muss, der aber dennoch aus der neuartigen Musik nicht schlau wurde.

Graf wandte sich an Gustav Mahler, der damals Hofoperndirektor war. Aber selbst der von seinen Zeitgenossen als Fortschritts-Musiker angefeindete Symphoniker konnte sich von der bloßen Lektüre der Verklärten Nacht kein vollständiges Bild machen. Aber er war neugierig und bat seinen Schwager, den philharmonischen Konzertmeister und Streichquartett-Primarius Arnold Rosé, ihm mit seinen Kammermusikpartnern die Novität vorzuspielen.

Schönbergs Kühnheit

So kam es zur inoffiziellen Uraufführung in den Direktionsräumen der Wiener Hofoper, bei der Max Graf auch anwesend war. Mahler soll Rosé damals ermuntert haben, das Stück doch in seinen Musikvereins-Konzerten uraufzuführen. Was dann auch geschah, „sehr zum Missfallen des Publikums, das laut zischte“, wie Graf sich erinnert, um nachzusetzen: „Dieses Zischen wuchs in Wien und in anderen Städten in dem Maß an, in dem Schönbergs Kühnheit wuchs.“

In jenen Jahren war auch Richard Strauss noch ein Förderer Schönbergs. Er machte ihn auf das Sujet für eine mögliche symphonische Dichtung aufmerksam, Maurice Maeterlincks Pelleas und Melisande, nicht ahnend, dass Claude Debussy gerade an einer Opernversion des Dramas arbeitete. Noch ein wenig später, als Schönberg seine Tonsprache radikalisierte und die Dur-Moll-Tonalität ganz hinter sich ließ, interessierte Strauss sich als Generalmusikdirektor Berlins für die radikalen „Orchesterstücke“, war sich aber sicher, dergleichen seinem „mehr als konservativen Berliner Publikum“ nicht zumuten zu können.

Bald war auch Strauss der Wiener Kollege suspekt. Es wäre besser, er ginge Schneeschaufeln als „Notenpapier vollzukritzeln“, meinte Strauss, sprach sich aber dennoch dafür aus, Schönberg ein Stipendium zukommen zu lassen.

Der Graben zwischen den vorwärtsstürmenden schöpferischen Kräften und dem ratlosen Publikum klaffte bald unüberwindlich. Als Schönberg im Ersten Weltkrieg zum Militär einrücken musste, fragte ihn sein Kommandant, ob er „der Schönberg“ sei – und der Komponist antwortete mit dem legendären Satz: „Einer hat’s tun müssen, keiner hat’s tun wollen. Also hab’ ich mich dafür hergegeben“.

Urbild des Musikdramas

Das Sendungsbewusstsein der neuen Komponistengeneration führte in ein ungewisses Land, in dem die Gravitationskräfte der Tonalität nicht mehr zu herrschen schienen. Alles war möglich, jeder Ton, jeder Akkord musste sich aus der künstlerischen Notwendigkeit heraus frei entfalten – das klang nicht nur nach Anarchie, das führte auch dazu, dass die Stücke immer kürzer wurden – eine Botschaft vermittelnd, um gleich danach wieder zu verstummen.

Es sei denn, die Musik erfuhr durch einen gesprochenen oder gesungenen Text ihre sinnstiftende Formgebung. So gelang Schönberg mit seinem Monodram Erwartung nach einem Text Marie Pappenheims das Urbild des expressionistischen Musikdramas. Dorothea Rösch-mann realisiert es unter Patrick Hahns Leitung am 5. und 6. Juni 2024 im Musikverein: Eine Figur, eine Situation, ein Augenblick, nach allen Regeln der jungen Kunst der Psychologie ausgedeutet und ausgeleuchtet - die Analyse einer Momentaufnahme, zu der Text und Musik die Zeitachse bilden.

Das radikale Werk für Sopran und großes Orchester bekam einen minimalistischen Gegenpol: Pierrot Lunaire, 21 aphoristische „Melodramen“ für eine – auf präzisen Tonhöhen notierte – Sprechstimme und ein kleines Instrumentalensemble. Die beiden Werke beweisen, dass eine Formgebung radikal neuer Art im harmonisch freien Raum möglich war. Doch die gewonnene Freiheit irritierte. Man suchte nach Halt. Schönberg fand nach einer Schaffenskrise Anfang der Zwanzigerjahre den Ausweg: die Komposition mit „zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“. Die „Zwölftonmethode“ war für das Publikum bald Synonym für alles Dissonanzleid dieser Welt. Schönberg hingegen erhoffte sich mehr Verständlichkeit, Orientierung in einer Klangwelt, in der kein Grundton mehr herrschte, sondern die Gleichberechtigung aller zwölf Töne der chromatischen Skala. Die Hoffnung „daß man meine Melodien auf der Straße pfeift“, hat sich 100 Jahre danach nicht erfüllt. In Schönbergs Spätwerk können die Hörer nach wie vor gar keine Melodien ausmachen. Aber das Engagement der jungen Interpretengeneration widmet sich mit Leidenschaft der Aufgabe, durch klare, getreue Realisierung der komplexen Partiturvorschriften Licht ins vermeintlich ewige Dunkel zu bringen.

„Wichtiger als meine Kunst...“

Patricia Kopatchinskaja, die mit Mitgliedern der Wiener Symphoniker am 16. Juni 2024 als Diseuse den Pierrot Lunaire als halbszenisches Spektakel aufführen wird, ist am selben Abend und tags darauf unter Aziz Shokhakimov auch Solistin im zwölftönigen Violinkonzert, einer jener ehrgeizigen Kompositionen Schönbergs, in denen er mit seiner neuen „Methode“ den klassischen Formen neues Leben einzuhauchen versucht.

Eine Woche zuvor, am 8. und 9 Juni, dirigiert Dima Slobodeniouk im Musikverein Schönbergs Kol Nidre. Man hat kaum beachtet, dass der Komponist unter dem Eindruck der Zeitgeschichte daran dachte, sich nur noch politisch zu engagieren. „Ich halte das für wichtiger als meine Kunst und bin entschlossen … nichts anderes mehr zu machen, als für die nationale Sache des Judentums zu arbeiten", schrieb er im August 1933 an Anton von Webern.

Vom Protestantismus trat Schönberg denn auch wieder zum Judentum über. Marc Chagall war sein Zeuge. Kol Nidre ist eine Frucht dieser Rückbesinnung - Schönberg überwand angesichts des Kompositionsauftrags seine Skepsis gegenüber dem „Reinigungsgebet“, das er für problematisch hielt, bis er erfuhr, dass es von sephardischen Juden gebetet wurde, die sich offiziell zum Katholizismus bekennen mussten, ihrem Gott aber im Stillen die Treue halten wollten. So hat denn auch der Zwölftonmeister zu diesem Zweck ein Werk in g-Moll komponiert …

Dr. Wilhelm Sinkovicz ist Musikwissenschaftler und Musikkritiker der Wiener Tageszeitung Die Presse. Sein Buch "Mehr als zwölf Töne - Arnold Schönberg" erschien im P. Zsolnay Verlag.