Anton Bruckner: Dämon, Hinterwäldler, Heiliger

Die Wiener Symphoniker feiern den 200. Geburtstag des Komponisten

Text: Walter Weidringer

Kein Cäsar würde den Componisten fürchten, und doch komponiert er nichts als Hochverrath, Empörung und Tyrannenmord“: Es bedurfte eines erklärten Gegners von Anton Bruckner, um das subversive Potential im Schaffen des vielfach als bieder-devot beschriebenen Menschen hellsichtig zu benennen. Bruckner sei, so der Kritiker Max Kalbeck 1885 weiter, „der Gefährlichste unter den musikalischen Neuerern des Tages: Seine Gedanken liegen außer aller Berechnung, und das Unvermittelte in ihnen besitzt eine verführerische, magische Kraft“. – Ob nun dämonisiert, als naiver Hinterwäldler abgetan oder von seinen Getreuen geradezu heiliggesprochen, schuf Anton Bruckner kompromisslose Partituren „für spätere Zeiten“ und war doch durch quälerische Selbstkritik und die Aussicht auf kurzfristigen Erfolg zu Konzessionen und Umarbeitungen bereit: Faszinierende Widersprüche scheinen sein Leben ebenso wie sein Werk zu prägen – Widersprüche, die zugleich seinen singulären Rang in der Musikgeschichte untermauern. Als glühender Verehrer Richard Wagners wurde er zu den fortschrittlichen „Neudeutschen“ gerechnet. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, mit Beharrlichkeit an der angeblich überkommenen Gattung der Symphonie festzuhalten, die er sich noch dazu zu einem eigenen Typus formte, der musikalisch verblüffend wenig mit Wagner zu tun hat. Die Entwicklung von Themen aus geheimnisvollem Raunen, komplexe kontrapunktische Durchwirkung, markige Musizierlust, die Erhabenheit von Chorälen und mehr, all das bildet, in riesenhafte Steigerungswellen gegossen, eine monumentale musikalische Architektur voll rückhaltloser Expression, jähen Abgründen, spirituellen Obertönen und immer wieder bestürzender Modernität.

Der religiös verbrämte Geniekult, wie er gerade rund um Bruckner von seinen Apologeten lange gepflegt wurde, empfing vielleicht besondere Nahrung durch eine Art von Abwehrreaktion: Bis heute wird der Komponist ja gerne im breiten oberösterreichischen Dialekt zitiert – und damit das Bild des „Mostschädls“ gefestigt. Dass etwa Wagner gesächselt hat, Brahms nicht daran dachte, sein Hamburgisch abzulegen und sich beispielsweise „Ach neige,/ Du Schmerzensreiche“ nur in Goethes Frankfurter Dialekt wirklich reimt, wird dabei geflissentlich übersehen. Um beim Bild der Sprache zu bleiben: Bruckners ureigenes musikalisches Idiom ist in seiner weiter oben beschriebenen spezifischen Mischung unverwechselbar und auch unnachahmlich geblieben. Jedenfalls hat die Mär vom spontan die komplexesten Werke schaffenden, begnadeten Künstler ohnehin ausgedient, seit wir wissen, wie viel Schweiß auch die Begabtesten immer wieder investiert haben, investieren mussten. Gerade bei Bruckner und seinen ja in etlichen Fällen mehrfach umgearbeiteten Symphonien taugt die Kategorie des in der Romantik als Leitbild dargestellten „Originalgenies“ wenig: Wenn ein Genie durch das „Ungelernte, Unentlehnte, Unlernbare, Unentlehnbare, Unnachahmliche, Göttliche“ und das „Inspirationsmäßige“ gekennzeichnet ist, wie der auf-klärerische Schweizer Philosoph und Schriftsteller Johann Caspar Lavanter in den 1770er Jahren feststellte, dann steht das völlig quer zu Bruckners Tendenz, nicht etwa der ersten Eingebung zu vertrauen, sondern seine symphonischen Werke vielmehr als „work in progress“ in neue Gestalten überzuführen – sowie zu seinem zwanghaften Bestreben, vor anerkannten Autoritäten Prüfungen abzulegen und sich gerade seine handwerklichen Fähigkeiten in offiziellen Zeugnissen beglaubigen zu lassen. Von der aufmüpfig-widerborstigen Ersten, dem „kecken Beserl“, das Bruckner im Alter von über 40 Jahren schuf, bis zu der in kindlicher Frömmigkeit „dem lieben Gott“ gewidmeten, mystisch-transzendentalen Neunten, die dreißig Jahre später unvollendet bleiben sollte, fächert sich ein faszinierender symphonischer Kosmos auf, wobei sich in den letzten Jahren, gerade auch im Hinblick auf die 200. Wiederkehr von Bruckners Geburtstag am 4. September 2024, der Aufführungshorizont erweitert hat: hin zu den weniger bekannten Fassungen ebenso wie zu Raritäten wie der frühen „Studiensymphonie“ und der annullierten „Nullten“.

Die DNA des Orchesters

Anton Bruckners Musik zählt gleichsam zur DNA der Wiener Symphoniker. Untrennbar mit der historischen Bruckner-Pflege der Stadt verbunden ist das damals noch unter „Wiener Concertverein“ firmierende Orchester bereits durch seinen ersten Chefdirigenten Ferdinand Löwe: Am 2. Februar 1903 hat dieser Bruckners unvollendet gebliebene Neunte (in eigener Bearbeitung) als Uraufführung vorgestellt; in der Saison 1910/11 sollte er dann einen kompletten Zyklus der Symphonien ansetzen. Seither ist die enge Verbindung des Klangkörpers zu Bruckners Musik nie abgerissen, sondern hat sich in der Zusammenarbeit mit herausragenden Persönlichkeiten am Dirigentenpult und über Generationen von Musikern und später auch Musikerinnen noch verstärkt und ausdifferenziert. Die Wiener Symphoniker führen diese lange Tradition fort und widmen sich in der nächsten Saison drei von Bruckners gewichtigsten Symphonien in ihrer gängigsten Gestalt sowie einem späten Beispiel der Sakralmusik aus seiner Feder.

Die Romantische

Die Auswahl beginnt der Chronologie der Entstehung nach mit der Vierten in Es-Dur, der von Bruckner selbst so genannten „Romantischen“. In ihrer riesenhaften, rhythmisch hochkomplexen Erstfassung entstand sie 1874, einem Jahr, das für den Komponisten geprägt war von „Leid, Kränkungen und Zurücksetzungen“ (Leopold Nowak) – und erwies sich als zu starker Tobak für den Willen und die Möglichkeiten der Orchester seiner Zeit. Das ursprüngliche, fast spukhaft anmutende Scherzo tauschte Bruckner also 1878 aus durch ein wesentlich verbindlicheres mit pittoreskem Horngeschmetter; die übrigen drei Sätze erhielten klarere Konturen in verknappter, verdichteter Gestalt. Was an ungezügelter Phantastik verlorenging, wurde somit an übersichtlicher Periodik gewonnen. Allerdings schien Bruckner das Finale dann doch zu kurz und leichtgewichtig: 1880 ersetzte er es durch eine dritte Version, die dem Charakter der vorangegangenen Sätze entspricht – und diese Fassung begründete den bald darauf einsetzenden enormen Erfolg des Werks. Auch Pablo Heras-Casado hat sie für seine Interpretation mit den Symphonikern gewählt.

Am Pult: Shani, Honeck und Carydis

Als die Vierte ihre heute populärste Version erhielt, war bereits die Symphonie Nr. 5 B-Dur fertig: In ihr entwickelte Bruckner sein Werkmodell weiter, indem er den zyklischen Zusammenhang erhöhte. Die Themen der Sätze sind miteinander verwandt und schon auf ihre Kombinierbarkeit hin ersonnen, der Schwerpunkt wird aber eindeutig ins Finale verlagert und dessen inneres Gewicht mit den alten Künsten der Kontrapunktik erzielt – gewissermaßen die Vereinigung und Überhöhung der Finalsymphoniekonzepte von Mozart („Jupiter“) und Beethoven (Fünfte, Neunte). Die Symphoniker stellen sich dieser Herausforderung mit Lahav Shani am Dirigentenpult.

Im Falle der Achten war Bruckner am Boden zerstört, als sich der Dirigent Hermann Levi 1887 außerstande erklärte, das Werk aus der Taufe zu heben, weil er mit der Musik in weiten Teilen nichts anfangen konnte. Trotz anfangs depressiver Stimmung nahm der 63-jährige Komponist aber Levis Anregung zu einer Umarbeitung auf: Unmittelbar anschließend und bald neu beflügelt schuf er eine zweite Fassung. Doch statt Konzessionen zu machen, erarbeitete Bruckner eine in Details sogar kühnere, jedenfalls eigenständige Alternative zur Urgestalt mit vielleicht noch stärkerer Wirkung und logischerem Gesamtkonzept – zu erleben mit den Wiener Symphonikern unter Manfred Honeck. Dazu tritt noch das mit der 7. Symphonie musikalisch verbundene Te Deum, ein Werk der brausenden Glaubensekstase und mythischen Verzückung, zum Klingen gebracht mit Constantinos Carydis, einem namhaften Soloquartett sowie der Wiener Singakademie.

Mag. Walter Weidringer lebt und arbeitet als Musikwissenschaftler, freier Musikpublizist, Kritiker (Die Presse) und Sendungsgestalter (Ö1) in Wien.

Konzerte mit Werken von Anton Bruckner in der Saison 2023-24
Wiener Konzerthaus, Großer Saal
Honeck / Bruckner "Symphonie Nr. 8 (1890)"
Wiener Konzerthaus, Großer Saal
Honeck / Bruckner "Symphonie Nr. 8 (1890)"
Musikverein Wien, Großer Saal
Heras-Casado / Haas, Bruckner
Musikverein Wien, Großer Saal
Heras-Casado / Haas, Bruckner
Wiener Konzerthaus, Großer Saal
Carydis / Bruckner "Te Deum", Berlioz
Wiener Konzerthaus, Großer Saal
Carydis / Bruckner "Te Deum", Berlioz
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Österreichische Nationalbibliothek, Oratorium
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Kammerkonzert: Der Musikant Gottes
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Shani · Mozart, Bruckner
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Fridays@7 mit Lahav Shani
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