Franz Schmidt:

Franz Schmidt:

Bilanz der österreichischen Symphonik
Franz Schmidt

Franz Schmidt ca. 1927

Die Wiener Symphoniker entdecken die Werke des Spätromantikers wieder.
von Dr. Wilhelm Sinkovicz

Einen Schwerpunkt widmen die Wiener Symphoniker in der neuen Saison der Musik von Franz Schmidt. Der Name ist im musikalischen Gedächtnis der Stadt Wien vor allem dank der regelmäßigen Aufführungen des Oratoriums Das Buch mit sieben Siegeln festgeschrieben. Bis vor kurzem identifizierten Musikfreunde Schmidt auch noch als Schöpfer des klangschwelgerischen Zwischenspiels aus der Oper Notre Dame, einem Dauerbrenner in den seither ausgestorbenen „Wunschkonzerten“.

Im Übrigen ist es still um den Komponisten geworden, der um die Mitte des 20. Jahrhunderts noch als einer der bedeutendsten Köpfe der jüngeren österreichischen Musikgeschichte galt. Nach 1945 waren seine Symphonien und die Variationen über ein Husarenlied in den Konzertsälen häufiger präsent als die Werke Gustav Mahlers, dessen Wiederentdeckung nahezu parallel lief mit der Verdrängung Schmidts aus dem Repertoire.

Diese Verdrängung wiederum hatte vielleicht weniger mit künstlerischen Qualitätskriterien zu tun als mit der steigenden Wachsamkeit gegenüber politischen Konnotationen der Kulturgeschichte. Schmidt, geboren 1874 in Preßburg (damals Pozsony im ungarischen Königreich, heute Bratislava in der Slowakei), war beim Anschluss Österreichs, 1938, zwar schon ein kranker Mann, doch taugte seine Popularität den neuen Machthabern durchaus zu Propagandazwecken. Die gleichgeschaltete Gesellschaft der Musikfreunde in Wien beauftragte ihn mit der Komposition einer Kantate zum Ruhme der „Wiedererstarkung des deutschen Volkes“ nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Diese Deutsche Auferstehung behindert den Nachruhm des Komponisten erheblich. Schmidt starb 1939 und die Kantate wurde posthum, von einem seiner Schüler vollendet, im Musikverein uraufgeführt. Doch die wahre Geschichte, die sich dahinter verbirgt, ist kaum bekannt geworden. Schmidt hatte sein Werk in der Skizze vollendet, ließ sie aber liegen und schrieb einen bemerkenswerten Brief an den Leiter der Gesellschaft der Musikfreunde, in dem er auf seine fortschreitende Krankheit verweist und sich vorbehält, „den Bau abzubrechen“, denn er halte - und das sollte bei einer Schmidt-Bestandsaufnahme nicht fehlen - das Vorhaben überhaupt „für eine Vermessenheit“. Zur Vollendung zweier Werke für den längst ins Exil geflüchteten Pianisten Paul Wittgenstein (ein Quintett und die „Toccata“ für Klavier, linke Hand) hatte Schmidt genügend Kraft gefunden.

Kunst und Propaganda

Dies vorausgeschickt, darf man vielleicht die posthum anbefohlene Uraufführung der Deutschen Auferstehung auch für die ausführenden Künstler:innen eher als Pflichtübung bewerten denn als schwarzen Fleck im Tagebuch der Wiener Symphoniker, die als Wiener „Stadtorchester“ ebenfalls mit von der Partie waren wie der Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde. Dieselben Kräfte unter Oswald Kabasta hatten einige Monate früher am selben Ort triumphal ein Werk uraufgeführt, das näher am Puls der Zeit war als die vermeintliche „Auferstehung“: Das Buch mit sieben Siegeln, eine Vertonung von Texten aus der Apokalypse.

Dieses Oratorium darf in einer Hommage an Franz Schmidt, wie sie die Symphoniker heuer veranstalten, so wenig fehlen wie die beiden Schwergewichte in der Reihe der vier Symphonien des Komponisten, die Zweite und die Vierte. In all diesen Werken zeigt sich Franz Schmidts Position im seinerzeit viel weiter gefassten Begriff der musikalischen „Moderne“: Er wusste sich der avantgardistischen Klangmittel seiner Ära zu bedienen, überschritt aber niemals die Grenze zur sogenannten Atonalität - oder wenn, dann zu illustrativem Zweck wie anlässlich der Schilderung der Verwüstungen der Plagen des apokalyptischen Weltuntergangs, denen dann freilich der erlösende D-Dur-Hymnus eines „Halleluja“-Chores antwortet, der in der Chorliteratur wirklich nur im „Halleluja“ aus Händels Messias Seinesgleichen hat.

In diesem Sinne ist Schmidt künstlerisch viel eher der Weggefährte eines Richard Strauss als der des gleichaltrigen, ebenfalls 1874 geborenen Arnold Schönberg, dessen Arbeit Schmidt allerdings nicht zuletzt als Rektor der Wiener Musikakademie genau verfolgte - und förderte, indem er dafür sorgte, dass Schönbergs „Harmonielehre“ im Unterricht verwendet wurde. Schmidt selbst saß sogar bei der Einstudierung und Aufführung von Schönbergs kühnen Melodramen Pierrot Lunarie mit Studierenden der Akademie am Klavier.

Apokalyptische Visionen

Er war nämlich ein ebenso virtuoser Pianist wie Cellist. Mit dem Cellospiel verdiente er über viele Jahre sein Brot als Mitglied des Hofopernorchesters und der Philharmoniker. Gustav Mahler lernte er also nicht nur als Komponistenkollegen, sondern auch als Chef kennen, dirigierend in Konzert und Opernhaus. Seine Symphonien aber entstanden - mit Ausnahme der mit dem Beethoven-Preis ausgezeichneten Ersten - erst nach Mahlers Tod.

Und sie formulierten quasi eine Gegenthese zu Mahlers Spätwerk, das zukunftsträchtig das klassische Formengefüge zum Einsturz gebracht hatte. Schmidt dagegen bewies noch einmal die Tragfähigkeit der alten Formen. Wenn die Symphoniker in den kommenden Monaten die Zweite und Vierte Symphonie musizieren werden, Werke, die sie einst auch aus der Taufe gehoben haben, dann kann das Publikum mit der Es-Dur-Symphonie (Nr. 2, 1913) so etwas wie einen virtuosen Abgesang auf die viersätzige symphonische Form erkennen. Und das obwohl das Werk offiziell nur drei Sätze hat. Schmidt denkt hier übergreifend. Er bindet die einzelnen Teile der Symphonie in zahllosen raffinierten Kunstgriffen zu einer Einheit, indem er drei grundlegende Prinzipien neu definiert und miteinander verwebt: die Sonatenform, die Variation und die Fuge.

Die Gegenthese zu Mahler

Noch konsequenter verfährt er in der Vierten, deren Abschnitte pausenlos ineinander übergehen, einen erschütternden Klagegesang auf des Komponisten früh verstorbene Tochter inmitten. Auch hier verschmelzen - wie etwa in Franz Liszts Klaviersonate - die gewohnten vier Sätze zu einem großen formalen Bogen, der in diesem Fall sogar wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt: Das große Trompetensolo des Beginns steht auch am Ende. Es sei, so der Komponist, „die letzte Musik, die man ins Jenseits mitnimmt“.

Kammermusik des Lordsiegelbewahrers

Ein Kammerensemble der Wiener Symphoniker wird im Laufe der Saison überdies noch das erste der beiden Streichquartette von Franz Schmidt aufführen. Ein Werk, bei dessen Erstaufführung die Rezensenten den Komponisten bereits als Paradekomponisten der Reaktion auf die musikalische Avantgarde in Stellung bringen. So schrieb die „Zeitschrift für Musik“ nach der Leipziger Premiere im Jahr 1927 über das „außerordentliche Werk“: „Es erinnert an beste Zeiten der deutschen Musik ... Ob uns nochmals aus Wien und Österreich ein glückliches musikalisches Zeitalter erblühen wird?“

Bemerkenswerterweise war es das zweite der beiden Streichquartette, mit dem Schmidt, die Wiener Moderne um Schönberg und die eben erfundene „Zwölftonmethode“ kennend, die Antwort gab und quasi einen Beharrungsbeschluss fasste: Das Stück steht in der Volksliedertonart G-Dur, die allerdings erst durch kühne harmonische Abenteuer erkämpft werden muss, die tatsächlich durchs Dickicht der „zwölf Töne“ führen. Ein Menetekel? Mit dem Zeitalter der sogenannten Postmoderne könnte jedenfalls auch der rechte Moment gekommen sein für eine Neubewertung der Kunst eines Franz Schmidt.

Der langjährige Präsident der Internationalen Franz Schmidt Gesellschaft Dr. Wilhelm Sinkovicz ist seit 1984 Musikkritiker der Wiener Tageszeitung Die Presse